Dienstag, 29. Mai 2012

Feengarten und Pagoden: leichte Klaviermusik von Maurice Ravel

Die Klaviermusik von Maurice Ravel zählt auch heute noch zum Schwersten, was das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Für die Komposition seines „Gaspard de la nuit“ studierte Ravel angeblich die berüchtigten „Etudes d’exécution transcendante“ von Franz Liszt, um zu überprüfen, ob seine eigene Musik auch wirklich virtuos genug sei. Ganz gleich, ob „Valses nobles et sentimentales“ oder „Tombeau de Couperin“ – hinter das Geheimnis dieser Musik kommt man nur, wenn man bereit ist viele Wochen und Monate Übefleiß zu investieren. Dabei gibt es durchaus Klaviermusik von Ravel, die zum Besten gehört, was der Meister aus Montfort geschrieben hat – und für die man kein studierter Pianist sein muss, um sie zu spielen. Die Rede ist von seiner bezauberenden Märchenmusik „Ma Mere l’Oye“.

Kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat die Sprache der Märchen und die Welt der Kinder so gut verstanden wie der 1875 im baskischen Ciboure geborene Ravel, dessen Todestag sich im Dezember zum fünfundsiebzigsten Mal jährt. Der kleingewachsene Mann mit den expressionistischen Gesichtszügen und dem eleganten Auftreten hat Kinder über alles geliebt. Vielleicht weil sie noch kleiner waren als er, der er zeitlebens mit seiner Körperlichkeit haderte und unter ihr litt. Mit einer Körpergröße von 1,58m befand er sich mit ihnen buchstäblich auf Augenhöhe. Und er liebte es, sein eigenes Vergnügen an Märchen, kunstvollem Spielzeug und fantastischen Figuren hinter dem Spiel mit jüngeren Kameraden zu verbergen.

Für die Kinder seiner Freunde Ida und Cyprien Godebski wurde Ravel eine Art Patenonkel. Als ihre Eltern im Sommer 1908 für einige Wochen Urlaub in Spanien machten, kümmerte er sich um die damals neun und zwölf Jahre alten Geschwister Mimie und Jean – unterstützt von ihrer englischen Gouvernante und der Köchin des Hauses. Mimie erinnert sich an die Zeit mit dem weltberühmten Komponisten, der für sie schlicht ihr „Lieblingsonkel“ war, der mit ihnen spielte, ihnen zuhörte und sich fantasievolle Spiele für sie ausdachte

Beide Kinder spielten gut Klavier und eines Tages überraschte sie Ravel mit einer kleinen Komposition für Klavier zu vier Händen, der „Pavane de la Belle au bois dormant“. Weitere Stücke hätten in den folgenden Wochen hinzukommen sollen, doch der Tod seines Vaters stürzte Ravel in eine tiefe Depression. Erst zwei Jahre später, am 10. April 1910, teilte Ravel seinem Freund Cyprien Godebski mit, dass der fertige Notentext einer kleinen Klaviersuite mit dem Titel „Ma Mere l’Oye“ an den Kopisten abgeschickt worden sei und die Uraufführung durch zwei junge Mädchen am 20. April stattfinden solle:  Ravel hatte eigentlich Mimie und Jean als Interpreten der Uraufführung im Sinn gehabt, doch „die Idee erfüllte mich mit kaltem Grausen“, wie sich Mimie später erinnerte. „Mein Bruder, der weniger schüchtern und ein talentierter Klavierspieler war, schlug sich recht gut. Doch ich war trotz Unterricht bei Ravel vor Angst oft so starr, dass wir den Gedanken aufgeben mussten.“   

Die Märchenerzählungen der „Mutter Gans“ oder – wie der Originaltitel lautet: „Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités: contes de ma Mère l’Oye“ von Charles Perrault genießen in Frankreich denselben Stellenwert wie in Deutschland die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Obwohl Perraults 1607 veröffentlichte Sammlung der Suite zu ihrem Titel verholfen hat, übernahm Ravel nur zwei Märchen aus Perraults Sammlung:  die Geschichten vom Dornröschen und vom Kleinen Däumling, der nicht nach Hause findet, weil die Vögel seine Wegmarkierung verspeisen. Eine weitere Märchengestalt findet er bei Marie-Catherine Baronne d'Aulnoy, einer Zeitgenossin Perraults: die Kaiserin Laideronette, die badet, während die Zwergenwesen der Pagoden dazu auf Nussschalen musizieren. Bei Jeanne-Marie Leprince de Beaumont entnimmt Ravel die anrührende Geschichte von der „Schönen und dem Tier“ und lässt „Ma Mère l’Oye“ mit einem selbst erdachten „Feengarten“ (Le jardin feerique) feierlich ausklingen.
Ravel taucht die Märchen in eine bizarre Klangwelt von überirdischer Schönheit. Mit vielen leeren Quarten, Quinten und Oktaven und modalen Melodien, die fast mittelalterlich anmuten und gelegentlichen lautmalerischen Elementen, wie den Stimmen der Vögel, die durch die Brotkrumen des Däumlings angelockt werden. Jeder Takt dieses kleinen Meisterwerks verströmt jenen seltsamen Märchenton, der gläserne Brücken der Phantasie baut zwischen dem Leben und dem Traum, in dem raffinierte Kunstfertigkeit mit naiver Einfachheit eine berührende Verbindung eingehen. Hans Christian Andersen hat diesen Tonfall in seinen Märchen getroffen und Ravel hat vielmals in seiner Musik gefunden.
Der im September 1908 komponierten und im äolischen Kirchenton gehaltenen Pavane der „schlafenden Schönen“ folgt der „Däumling“, dessen Sextakkorde an den Fauxbourdon des 15. Jahrunderts erinnern und das mit seinen raffinierten Taktwechseln und –verschiebungen die Verlorenheit des Däumlings so plastisch illustriert.

„Laideronette ist eine Kaiserin und verkündet Tatsachen mit Autorität“. Eine „Kaiserin der Pagoden“, deren Bild mithilfe zahlreicher schwarzer Tasten heraufbeschworen wird und in dem eine ganzes Gamelanorchester mit seinen Gongs und Klangschalen zu erklingen scheint.

Im vierten Stück hört man die Gespräche zwischen der Schönen und dem Tier, das sich später als verzauberter Prinz entpuppen wird. Hier scheint Ravel den „Gymnopedies“ seines Freundes Erik Satie Respekt zu zollen. Das Stück ist ein langsamer Walzer, in dessen Bassstimme das bedrohliche Knurren des Tieres mit der lieblichen Melodie der Schönen kontrastiert, bis sich das Thema mit einem Glissando in seine helle und freundliche Urgestalt zurückverwandelt.

Mit dem „Jardin feerique“ schließt die kleine Suite. Ravel kombiniert die Töne der C-Dur-Skala zu einem feierlichen Finale, das mit einer melancholischen Apotheose endet. Es scheint, als blicke der erwachsene Ravel noch einmal selbst durch einen Zauberspiegel in jene Zeit zurück, in der er noch selbst an einen „Feengarten“ glauben konnte.   

 „Ma Mere l’Oye“ eine seltene Ausnahme in Ravels Klavieroeuvre: während sich Stücke wie „Miroirs“, „Tombeau de Couperin“ oder gar „Gaspard de la nuit“ nahe an der Unspielbarkeitsgrenze bewegen, lassen sich diese kleinen Märchenstücke sogar von Kindern bewältigen. Wer etwa Bachs zweistimmigen Inventionen oder die eine der Gymnopedien von Satie gemeistert hat, dem dürften die fünf Stücke keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Das gilt sogar für den eindrucksvollen Auftritt der Kaiserin Laideronette, dessen Primo-Part nur unwesentlich schwerer als de berüchtigte „Flohwalzer“ ist, jedoch tausend Mal eindrucksvoller klingt.

Auf dem Weg zur Klaviermusik von Maurice Ravels stellt „Ma Mere l’Oye“ das perfekte Eingangsportal dar: die erlesenen und teilweise paradoxen Harmonien, die formalen Gags und wehmütigen Melodien, die Ravels Musik auszeichnen finden sich auch hier und wecken die Lust darauf, es vielleicht doch einmal mit den oder den Jeux d’Eau“ zu probieren „Miroirs“ oder es mit einem der Preludes und Menuets aus der bei Bärenreiter erschienenen Sammlung mit „Leichten Klavierstücke und Tänzen“ zu versuchen.

Leichte und mittelschwere Klaviermusik von Maurice Ravel

Ma Mere l’Oye
Suite für Klavier zu vier Händen
Herausgegeben von Roger Nichols
Edition Peters EP 71 002
EUR 15,80

Pavane pour une Infante défunte
Herausgegeben von Roger Nichols
Edition Peters EP 7371
EUR 11,80

Leichte Klavierstücke und Tänze
Herausgegeben von Michael Töpel
Bärenreiter Verlag BA 6580
EUR 10,-

Sonntag, 27. Mai 2012

Dirk-Michael Kirsch | Hommage à Poulenc

„Ich bin davon überzeugt, dass man dem Publikum etwas anbieten muss, was es auch verstehen kann. Etwas, das die fundamentalen Musikerfahrungen der Leute respektiert, aber in einer zeitgenössischen Sprache kommuniziert wird. Musik ist doch Kommunikation! So lange man das nicht berücksichtigt, fürchte ich, dass zeitgenössische Musik nicht nur in Italien weiter enorme Akzeptanzprobleme haben wird.“

Ennio Morricone, italienischer Avantgarde-Komponist und Filmmusiker




Der 1965 in Westerland auf Sylt geborene Dirk-Michael Kirsch gehört zu den Komponisten, die im „großen Feuilleton“ nur selten vorkommen. Das sagt viel aus über den Zustand des deutschen Feuilletons und über den Zustand unserer Musikwahrnehmung. Für die großen Musikkritiker des 19. und auch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es eine selbstverständliche Pflicht, alle musikalischen Entwicklungen ihrer Zeit chronistisch zu begleiten. Der durch seine Dauerfehde mit Richard Wagner berühmt gewordene Eduard Hanslick hat einige seiner klügsten Texte über Musik geschrieben, die heute beinahe vergessen ist – man lese nur seinen Aufsatz über Victor Nesslers „Trompeter von Säckingen“.

Heutzutage scheint eine der wichtigsten Forderung an einen Komponisten zu sein, die musikalische Entwicklung „voranzubringen“, „Neues zu wagen“ und den gesellschaftlichen Diskurs zu befeuern. Wer sich dazu nicht berufen fühlt, der kann immer noch eine Position als Klassenclown des Betriebs wie zum Beispiel Mauricio Kagel oder Moritz Eggert wählen – und sich damit nach wie vor einen Zugang zu den Fördertöpfen der Radiosender und Festivals sichern. Den Typus des Nur-Komponisten, wie ihn etwa Hans Werner Henze oder Wolfgang Rihm verkörpern, gibt es unter den jüngeren Musikern freilich nur noch selten. Der Normalfall sind heute Musiker wie Jörg Widman, Oli Mustonen oder Moritz Eggert, die auch als Interpreten, Veranstalter eigener Konzertreihen oder Lehrer tätig sind.

Auch Dirk-Michael Kirsch gehört zu dieser Gruppe. Der Oboist und Englischhornist spielte im Philharmonischen Orchester Augsburg, bei den Münchener Sinfonikern und im Münchener Kammerorchester, im Residenzorchester München, unterrichtet an einem Musikgymnasium und gehört mit als Mitglied des „Bell-Arte-Ensemble München“, dem Duo H2O oder dem Ensemble Bergerette sowie den von ihm selbst gegründeten „Trio LuDiAl“ zu den Protagonisten der Münchener Neue-Musik-Szene.

Als Komponist gilt seine Liebe neben Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams vor allem den großen französischen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Claude Debussy, Maurice Ravel und vor allem Francis Poulenc. An ihre Musik versucht er anzuknüpfen und „auf einer Basis des dem Ohr bereits Vertrauten weiter zu gehen, neue Klangräume zu erschließen“. Dabei verwendet er gelegentlich auch Techniken der Minimal Music, seine Musik ist sehr assoziativ und versteht sich neben formalen und rein kompositorischen Aspekten vor allem auch als Begleitung und Wegbereiter zu inneren Bildern oder Seelenzuständen. „Klänge werden zu Landschaften. Der Hörer muss beim ersten Hören auf eine ganz persönliche ‚Reise‘ mitgenommen werden, deren Ziel er allein bestimmen darf, um am Ende neugierig auf eine weitere Begegnung mit vielleicht noch ‚unerhörten‘ Klängen zu werden.“

Auf eine solche Reise geht auch, wer sich der „Hommage á Poulenc“ neugierig nähert. Die erlesene Kombination von Oboe d’amore und Klavier geht hier eine farbige Melange ein. Poulenc, der abgefeimte und sinnenlustige Meister des französischen Neoklassizismus, wird hier zum Paten einer sonnendurchfluteten Musik, bei der man Lavendelfelder im Wind wogen sieht und die Gischt bretonischer Strandpromenaden auf der Haut spürt.
Schon die allerersten Takte, in denen das Thema dieser gut siebenminütigen Komposition vorgestellt wird, hat Phantasie und Esprit:



Im 21. Jahrhundert eine solche Musik zu schreiben und sie dabei nicht ironisch zu verfremden, erfordert mehr Mut als alle Versuche, „verfremdete“, „entfremdete“ oder „verstörende“ Zustände oder Fragmente „zur Diskussion zu stellen“.

Unwillkürlich fühlt man sich an Susan Sontag erinnert, die 1964 (ein Jahr nach Poulencs) Tod über die Kultur des „Camp“ sinnierte. „Camp sieht alles in Anführungsstrichen“, schrieb sie damals und zeigte, dass Camp weit mehr umfasst als Kitsch oder minderwertige Kunst, die das Glück hat, Intellektuelle zu amüsieren. Dabei genügt es nicht, sich lediglich eines Stils zu bedienen, der als überholt, lächerlich oder misslungen gelten kann. Es muss schon eine gewisse Theatralik, Leidenschaftlichkeit und Verspieltheit hinzukommen, damit es „Camp“ wird. Wie kann man eine solche Passage auch anders deuten als liebevoll-ironisch?




Ironie ist ebenfalls ein wichtiges Element von „Camp“, sofern sie sich auf sentimentale und liebevolle Weise erweist. Niemals darf sie die verwendeten Techniken und Kunstgriffe banalisieren oder gar der Lächerlichkeit preisgeben. Oder anders gesagt: „Wenn man nicht ernst spielt, macht es auch keinen Spaß.“ (Loriot)



Ist Kirsch „Hommage á Poulenc“ nun also „Camp“? Immerhin war der illustre Franzose selbst ein besonders schillernder Vertreter dieser Kunstgattung: ein schwuler jüdischer Atheist, der ab seinem vierzigsten Lebensjahr hinreißende katholische Kirchenmusik schreibt und dabei bedenkenlos impressionistische Klänge mit Vaudeville-Musik und Gregorianik verbindet. Einem echten Künstler kann es schließlich gleich sein, was die Masse der Kritiker von seiner Kunst denkt. 

Vielleicht ist „camp“ ein altmodischer Begriff für ein Phänomen, das längst von unserem Alltag Besitz ergriffen hat. Die Historisierung und Neuentdeckung vergangener Popkultur, die Retro-Welle in den großen Städten – all das ist „Camp“. Wir nennen es nur nicht mehr so, weil uns die Aktualität der Ereignisse den Blick für die größeren Zusammenhänge versperrt. In diesem Sinne ist die Musik von Dirk-Michael Kirsch sogar moderner und zeitgenössischer als viele andere Kompositionen, die als „Neue Musik“ gehandelt werden.


 
Dirk-Michael Kirsch
Hommage à Poulenc
Oboe d’amore (Sopransaxophon) und Klavier
Accolade Musikverlag ACC. 1365




Donnerstag, 24. Mai 2012

Fast nichts – und doch so viel | Meditatives Improvisieren am Klavier

Der erste Eindruck ist schlicht: ein kleines Heft im Quadratformat mit vielen weiße Seiten, in deren Mitte oft nur ein einziges Notensystem mit drei oder vier Tönen gezeichnet ist. Dazwischen zwölf ZEN-inspirierte Zeichnungen und verstreute kleine Weisheiten „Man kann nicht auf Vorrat atmen“ oder „Suche die Musik nicht. Sie ist da und wartet. Lasse sie einfach zu und spiele sie.“  Ich hatte mehr „Spielfutter“ erwartet, originelle Gedankengänge und ausgefuchste Kompositionen – und damit natürlich das Anliegen dieses Heftes vollkommen verkannt. Schließlich soll ich ja nicht einfach ein paar neue Stücke von Francis Schneider spielen, sondern in mir selbst eine Musik finden. Und dazu können die „51 Modelle“ gar nicht schlicht genug sein. Manchmal bestehen sie auf den ersten (flüchtigen) Blick nur aus einem einzigen Ton, der in drei unterschiedlichen Oktaven notiert ist. Erst die darüber liegende Legende und die Konzentration des Spielers macht aus der Skizze ein vollständiges Stück, mit dem sich lange Zeit beschäftigen kann.

Ich mache mir einen Tee, schließe die Tür zum Klavierzimmer und versenke mich in Modell Nummer 46 – „Der Schneeleopard“. „Die Geschichte erzählt von einem der letzten Schneeleoparden in den Bergen des Kaukasus. Die Menschen dringen immer mehr in sein Revier ein und jagen ihn gnadenlos, seines kostbaren Felles wegen.“ Ein eintaktiges Pattern der linken Hand in f-moll bildet den Grundstock dieser Übung. Es könnte ein Mantra sein, das unablässig wiederholt wird und das mit seinen charakteristischen Synkopen eine „musikalische Unwucht“ ausbildet, von der die zu improvisierende Melodie der rechten Hand nicht unbeeinflusst. Ich probiere es zunächst mit einer Folge von Achteln und Sechzehnteln, versuche die metrischen Verschiebungen der Linken auszugleichen und mit gegenläufigen Bewegungen „aufzufüllen“.

Das Ergebnis ist ein hektisches Durcheinander. Erst als ich meinen musikalischen Ehrgeiz aufgebe und zu halben und ganzen Noten übergehe, entfaltet sich ein Bild: Ich sehe den Kaukasus, denke an die Erzählungen von Tschingis Aitmatov und nehme die von Francis Schneider sorgsam drapierten weiteren Hinweise wahr: „In unserer Musik wagt sich der Schneeleopard manchmal etwas aus seinem Versteck hervor, zieht sich dann aber sofort wieder zurück. Drücke dies dadurch aus, dass du das Motiv der linken Hand auch einmal nach As-Dur (für das Hervorwagen) und nach Es-Dur (für das Zurückziehen) transponierst.“ Am Ende habe ich eine halbe Stunde mit einem einzigen Takt zugebracht und doch das Gefühl, eine lange Reise getan zu haben.



Fast nichts – und doch so viel
Meditatives Improvisieren am Klavier
51 Modelle
Mit CD
Breitkopf & Härtel MN 903

ZEN-Meister am Klavier - Interview mit Francis Schneider

"Buddhisten nennen diesen Zustand der absorbierten, selbstlosen, absoluten Konzentration Samadhi. Samadhi kann am besten durch Meditationsübungen erlangt werden, obgleich es auch Geh-Samadhi gibt, Koch-Samadhi, Sandburgbau-Samadhi. Wenn die selbstbezogene Persönlichkeit von uns abfällt, sind wir hingerissen und achtsam zur selben Zeit.“

Stephen Nachmanovitch, Free Play – Improvisation in Life and Art



Francis Schneider wurde 1951 in Basel geboren. Nach seinem Abitur studierte er zunächst Romanistik, Musikwissenschaft und Klavier, um sich anschließend in den Fächern Cembalo, Improvisation, Komposition weiterzubilden. Neben seiner kreativen Arbeit ist Schneider auch kulturpolitisch tätig, so zum Beispiel als Vorstandsmitglied des Schweizer Musikrates, als Vorstands- und Lektoratsmitglied der Schweizer Musikedition, als Stiftungsrat der Kulturstiftung „Pro Argovia“ und als Präsident der EPTA Schweiz.

1984 gründete Schneider den Nepomuk-Musikverlag, der sich bald vom Geheimtipp zu einem der interessantesten Verlage für neue Unterrichtsliteratur, zeitgenössische Musik und musikpädagogische Schriften entwickelte. Der Katalog umfasst 241 Titel von über 100 Autoren und Komponisten. 1997 erhielt der Nepomuk-Musikverlag den Preis der SUISA-Stiftung für Musik für die Edition von Werken Schweizer Komponisten. Das Nepomuk-Portfolio umfasst über 100 Autoren, darunter auch bekannte Namen wie Heinz Holliger oder Klaus Huber und natürlich ist auch der Verlagsgründer mit zahlreichen Veröffentlichungen vertreten. In ihnen beschäftigt er sich oft auf eigenwillige und originelle Weise mit einem seiner wichtigsten Themen: Stille – und was aus ihr entstehen kann.

Anfang 2011 übergab Schneider „Nepomuk“ an einen Verlag mit einer historischen Tradition, die bis zu Beethoven zurückreicht: seit Januar führt Breitkopf & Härtel das Nepomuk-Programm weiter. Für beide Partner wohl ein Gewinn: für Schneider, der nun wieder mehr Zeit für seine künstlerischen Projekte hat und für Breitkopf & Härtel, die ein gutsortiertes pädagogisches Programm in ihren Katalog aufnehmen und weiterführen können. Ein Bereich, der bislang durchaus noch „ausbaufähig“ gewesen war. Im Verlagsgeschäft geht es – wie in vielen anderen Bereichen – um die Herstellung einer „kritischen Masse“. Und da sorgen fast 250 neue Titel schon für viel Aufmerksamkeit. Und Francis Schneider hat wieder etwas mehr Zeit, sich anderen Themen zuzuwenden. 

„Fast nichts – und doch so viel“ heißt sein neues Werk – das erste, das unter dem Breitkopf-Signet erscheint – und es widmet sich dem Thema „Meditatives Improvisieren am Klavier“. Ging es in früheren Veröffentlichungen bereits immer wieder um das Thema der Reduktion, die Entkernung großer musikalischer Gebäude, so greift diese Neuerscheinung den Gedanken noch radikaler auf.

PianoNews-Autor hat sich mit Francis Schneider unterhalten und stellt dessen neue Veröffentlichung vor.


Manuel Rösler
Francis Schneider, in Ihren früheren Veröffentlichungen scheinen Orte und Bilder eine wichtige Rolle zu spielen. Ich denke da etwa an die „Klingenden Bilder, in denen Sie Gemälde alter Meister musikalisch „nachzeichnen“ oder die „Musik der Orte“, in der Sie die „musikalische Essenz“ von siebzehn Orten ziehen, zu denen Sie eine besondere Beziehung haben. Was bedeutet dieses Thema für Sie?


Francis Schneider
Ort ist Raum. Raum ist Klang. Ich denke dass – wie kann man das sagen – es einen Raum entsteht, aus dem ich schöpfen kann, der aber keinen Platz einnimmt. Das kann eine kleine Wohnung sein oder ein großes Haus, es ist nicht vermessbar. Ein Ort ist für mich auch ein innerer Raum und in diesem Raum passiert sehr viel.

Ich stelle mir vor, dass es neben dem hörbaren Strom von Tönen und Musik auch noch einen unhörbaren Strom gibt. Die Improvisations-Modelle, die ich in „Fast nichts –und doch so viel“ vorstelle, sind Möglichkeiten, sich diesen (verborgenen) Strom zu erschließen, in ihn hineinzutauchen und ihn hörbar zu machen.

Und die Frage ist für mich, wie gelange ich dort hinein, wie kann ich diesen Raum für mich nutzen. Mit Bildern geht es mir ganz ähnlich: ich denke, dass es hinter der sichtbaren Welt noch viele Zeichen und Zeichnungen und Bilder gibt, die auf einer anderen Ebene anzusiedeln sind. Und die möchte ich gerne kennenlernen und auch diese Räume betreten.


Manuel Rösler
Wie lassen sich diese Räume betreten? Welche Mittel stehen Ihnen dafür zur Verfügung?

Francis Schneider
Es sind schon musikalische Mittel – ich werde innerlich leer und warte ab, was passiert. Ich will nicht etwas „tun“ – das ist ja etwas, womit wir ständig beschäftigt sind: Wir sehen nach, was in den Noten steht und bemühen uns, das adäquat zu realisieren. Ich möchte natürlich auf keinen Ton der großen Meister verzichten. Aber es gibt auch das andere: Dass ich still werde. Ruhig werde. Leer werde. Und was passiert dann? Was für Musik taucht auf, wenn ich einmal in mich hineinhorche?

Die Annäherung an diesen Strom kann nur aus der Ruhe heraus geschehen, aus dem entspannten Geschehen-Lassen, und nicht aus dem bewussten Wollen, dass etwas geschieht. Darum sind hier Ruhe, Gelassenheit und Meditation eng mit dem schöpferischen Prozess verbunden.

Dabei geht es unter anderem darum zurückzunehmen, was man weiß, und vieles von dem, was man gelernt hat, beiseite zu schieben. Man muss leer werden, damit dieser verborgene Strom und die Spielenden sich finden und miteinander in Beziehung treten können. Man muss sich vergessen, damit ‚es‘ stattfinden, damit die Musik dieses Stromes unter unseren Händen zum Klingen kommen kann.


Manuel Rösler
Die Stille spielt ja eine wichtige Rolle in Ihrer Musik.

Francis Schneider
In einer lauten Welt ist Stille überhaupt etwas sehr Erstrebenswertes. Aber es geht auch noch um etwas Anderes. Lassen Sie mich zu einem Bild greifen: Wenn wir einen perfekten Kreis zeichnen wollen, dann nehmen wir vielleicht einen Zirkel oder Rechenpapier. Oder wir zeichnen vielleicht zehn Kreise und wählen dann den besten daraus aus. Der Zen-Mönch setzt sich hin, schließt die Augen und wartet. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde. Und wenn er den Kreis spürt oder selber zum Kreis geworden ist, öffnet er die Augen und malt in einer einzigen Bewegung den perfekten Kreis. Und so zu musizieren wäre doch schön: Nicht „machen“ wollen, sondern geschehen lassen.


Mittwoch, 23. Mai 2012

Georg Philipp Telemann | Essercizii musici

„Nicht Bach hätte er heißen sollen, sondern Meer“, soll Beethoven einmal über den Thomaskantor gesagt haben – aber was wäre dann sein Freund (und Taufpate seines jüngsten Sohnes) Georg Philipp Telemann? Ein Ozean? Allein die Zahl der von Telemann geschriebenen Kirchenkantaten ist höher als alle Titel des Bach-Werke-Verzeichnisses – ganz zu schweigen von Opern, Sonaten, Suiten und Concerti grosso, Liedern, Oratorien... Am Ende seines Lebens seufzte selbst der Vielschreiber Telemann, er habe sich „leer geschrieben“.
Welchen Rang sich Telemann freilich sonst zumaß, verrät die Schlussbemerkung seiner bereits 1718 niedfergeschriebenen Autobiographie: „Und ob gleich nicht alles / was ich gemacht / nach eines jedweden Geschmack seyn wird noch kann / so halte doch dafür / che anco le cose, che non piacciono, si possono godere“ („dass man selbst jene Dinge genießen kann, die einem nicht gefallen“). Zehn Jahre später wird er musikalisch Bilanz ziehen und eine Folge von 24 Concerti veröffentlichen, in denen sich Solo- und Triosonaten die Wage halten und eine vielfältige Instrumentierung aufgeboten wird: wir finden Stücke für Blockflöte, Querflöte, Oboe, Violine, Viola da gamba und Cembalo, wobei jedem von ihnen zwei Solowerke zugewiesen sind und außerdem jedes von ihnen mit einem obligaten Part an vier Triosonaten beteiligt ist.

Auch in formaler Hinsicht beschreitet Telemann neue Wege, kombiniert italienische Formen (etwa die von Corelli bekannte Satzefolge langsam-schnell-langsam-schnell) mit französischem und sogar slawischem Stil zu einem völlig eigenständigem Ganzem.

Sechs der zwölf Solosonaten sind nun als Urtext-Ausgabe im Bärenreiter-Verlag erschienen. Herausgeber Klaus Hofmann hat die Werke für Violine, Oboe und Flöte herausgesucht, was sicherlich auch einer praktischen Verlagsentscheidung geschuldet ist: auf einen Gambisten kommen wahrscheinlich hundert Geiger oder Flötisten. Dennoch ist angsichts des musikalischen Reichtums, der guten Spielbarkeit und ihrer vielseitigen Einsetzbarkeit zu hoffen, dass auch die übrigen achtzehn Sonaten als praktische Einzelausgabe ihren Weg in die Welt finden werden.


Georg Philipp Telemann | Essercizii musici
Zwei Sonaten für Flöte und Basso continuo | Bärenreiter Verlag BA 5890 | EUR 19,95
Zwei Sonaten für Oboe und Basso continuo | Bärenreiter Verlag BA 5889 | EUR 19,95
Zwei Sonaten für Violine und Basso continuo | Bärenreiter Verlag BA 5880 | EUR 16,95


     

Edvard Grieg | Violinsonate in F-Dur op. 8

„Monsieur, es ist mir eine große Freude, Ihnen zu sagen, welch aufrichtiges Vergnügen mir die Lektüre Ihrer Sonate op. 8 bereitet hat. Sie zeugt von einem starken, ideenreichen, schöpfenden, erfinderischen, vortrefflich gearteten Kompositionstalent, das nur seinem natürlichen Wege folgen braucht, um eine hohe Stufe zu erreichen.“

FRANZ LISZT IN EINEM BRIEF AN DEN KOMPONISTEN


Nicht nur in Edvard Griegs eigenem Schaffen spielen die drei Sonaten für Violine und Klavier eine entscheidende Rolle. Für den jungen Komponisten, der nach seinem Studium in Leipzig nach Norwegen zurückgekehrt war und sich dort – ohne den Austausch mit Freunden und Kollegen – durchaus einsam fühlten, waren sie die Eintrittskarte in das kulturelle Leben Europas. Daran ist vor allem Franz Liszt schuld, der dem zweiunddreißig Jahre jüngeren Grieg nicht nur glänzende Empfehlungen schrieb, sondern ihm auch so manche Tür öffnete.

Grieg hat seine erste Violinsonate selbst als „naiv, reich an Vorbildern“ bezeichnet; vor allem aber ist sie jugendlich-stürmisch ausgefallen, mit musikalischen Gedanken, die sich gegenseitig befeuern und ablösen, fein ausgehörten Harmonien – wie in den ersten Takten die Grundtonart zunächst verschleiert wird, um bald darauf wie „nebenbei“ einzutreten, ist fabelhaft – und einem Gespür für Klangfarben, das an seinen Lehrer Carl Reinecke erinnert. „Naiv“ ist vor allem das Ausmaß der Ausgelassenheit, die sich durch die schnellen Sätze zieht und der musikalische Überschwang, de das Werk kennzeichnet. Und die Vorbilder? Grieg kannte die Musik Mendelssohn Bartholdys und Schumanns seit seiner Zeit als Student am Leipziger Konversatorium und liebte sie. Auch Niels Gade vereehrte er – und mag ihn sich zum Vorbild genommen haben.

1865 erschien Griegs Opus 8 erstmals bei C.F. Peters im Druck und wurde in den nächsten Jahren immer wieder neu aufgelegt, wobei jedesmal kleinere Fehler ausgemerzt wurden. Im Zuge der bei Peters erschienene Grieg-Gesamtausgabe sind auch die Violinsonaten einer gründlichen Revision unterzogen worden und sind nun auch als Urtext-Einzelausgabe erhältlich.



Edvard Grieg | Sonate in F-Dur für Violine und Klavier | Herausgegeben von Finn Benestad | Edition Peters EP 11 311 | EUR 13,80





 

Friedrich Cerha | Quinett





„In den letzten Jahren habe ich mich von den „neuen“ Spieltechniken, von den klanglichen Verfremdungen, an deren Entwicklung ich – was die Geige betrifft – in den 50er Jahren wesentlich beteiligt war, zunehmend übersättigt gefühlt. Ich hatte plötzlich Sehnsucht nach dem reinen Instrumentalklang und nach einem klaren, gut durchhörbaren und dennoch nicht billigen musikalischen Satz. Im Fall des Oboenquintetts ist dabei eine Musik herausgekommen, die von meinen Arbeiten der letzten fünfzig Jahre am stärksten Elemente unserer musikalischen Tradition aufgreift.“

Auch in formaler Hinsicht geht Cerha traditionelle Wege: drei Sätze, schnell – langsam – schnell, von denen der erste eine Variation drei unterschiedlicher Charaktere bietet und die eine oder andere Technik der Zweiten Wiener Schule aufbietet.

Auch der zweite Satz ist ganz traditionell gehalten – wenn man unter Tradition die Errungenschafte der letzten 200 Jahre versteht. Gedämpfte Streicher leiten im pianissimo einen völlig anderen, von punktierten Rhythmen bestimmten, eher düster-gepressten Charakter ein, der gleichwohl nicht das ganze Geschehen bestimmt und in der Mitte einer Oboenlinie über einem Gerüst von pizzicati weicht.

Der dritte Satz hat Divertimento-Charakter und ist leggiero zu spielen, mit einer ausgedehnten Pizzicato-Passage im Mittelteil. Mit eine flotten Coda endet das Stück.



Friedrich Cerha
Quinett für Oboe, 2 Violinen, Viola und Cello
Doblinger Musikverlag 06 882
EUR 19,95










Elisenda Fábregas | Goyescas

Die 1955 in Barcelona, geborene Komponistin Elisenda Fábregas kam als Fulbright Stipendiatin 1978 in die USA und studierte an der Juilliard School sowie am Teachers College der Columbia University. Mit ihrem 2003 geschriebenen brillanten Klaviertrio „Vices de mi tierra“ – ebenfalls bei Hofmeister erschienen und vor einigen Jahren in dieser Kolumne vorgestellt – gelang ihr der internationale Durchbruch.

Fábregas steht in der Tradition der gemäßigten Moderne. Ihre Musik unterwirft sich keinem Dogma, sondern erweist sich als farbig, flexibel und weitgehend tonal (mit modalen Tendenzen). Chromatik, Taktwechsel und Synokpen sind häufig eingesetzte Stilmittel, um einen Spannungsverlauf zu skizzieren und lösen sich mit friedlichen Konsonanzen ab. Das katalanische Idiom durchzieht alle sieben Sätze in Form geheimnisvoller harmonischer und modaler Strukturen und rhyhtmischer Finessen. Mancher Kunstgriff – etwa die komplexen Melismen – verweisen auf die Flamenco-Tradition Andakusiens und noch weiter zurück auf die arabische Vergangenheit Spaniens. Der farbenreiche Stil

Nun widmet sie sich also Francisco Goya, den man als Seelenverwandten ansehen könnte. Mit seinen albtraumähnlichen Darstellungen von Kriegen, Ungerechtigkeiten und Wahnsinn empörte Goya die Eiferer der katholischen Inquisition und stieg zugleich zum Stammvater der Expressionisten und der Surrealisten auf. Durchaus ein attraktives Rollenmodell für eine katalanische Komponistin.

„Pregón“ eröffnet den Reigen von sieben Stücken: eine brillante Fanfare, die mit herrischen Fanfarenklängen die Ankunft der königlichen Familie ankündigt – die wir im folgenden Stück kennenlernen „La familia de Carlos IV“. Ein würdevoller Schreittanz im Klavier (der etwas moppelige König?), der entfernt an eine Cortege erinnert. Flöte und Bratsche übernehmen dabei selbständig geführte Aufgaben, als ob sie dem Blick des Betrachters von einer skurilen Figur zur nächsten nachvollziehen. Spätestens hier lohnt sich also der Griff zum Kunstatlas, der auch in den nachfolgenden Sätzen „Las majas en al balcon“, „El sueño“, „La fragua“, „Toque“ und „La gallina ciega“ zum Einsatz kommen darf.

Elisenda Fábregas | Goyescas für Flöte, Viola und Klavier | Friedrich Hofmeister FH 3435 | EUR 27,80







Ernst Wilhelm Wolf | Streichquartette

Ernst Wilhelm Wolf | Drei Quartette op. 1 | ISMN M-700296-59-9  | EUR 49,50 &
Drei Quartette op. 3 | ISMN M-700296-94-0 | EUR 49,50 | Partitur und Stimmen | Herausgegeben von Philipp Schmidt | Ortus Musikverlag


„Ernst Wilhelm Wolf war mehr als ein Genie, er war der redlichste Biedermann, der unbestechbarste Freund der Wahrheit; in seinem Herzen war Wärme, und in seinem Kopfe Licht; ihm mangelte nichts, als die elende Kunst seinen Rücken zu beugen.“


- August von Kotzebue


Hinter dem „Ortus Musikverlag“ stecken die beiden Musikwissenschaftler Tobias Schwinger und Ekkehard Krüger. Auf dem Programm des 1998 gegründeten Verlages steht vor allem Musik des 17. und 18. Jahrhunderts und der Gegenwart sowie Erstveröffentlichungen aus dem Kulturraum zwischen Elbe und Oder standen auf dem Programm: Kirchenmusik von Philipp Dulichius und Thomas Selle, Opern und Oratorien von Telemann und natürlich Werke des Berliner Hofkapellmeisters Carl Heinrich Graun. Inzwischen ist eine weitere Verlagsadresse in Berlin hinzugekommen und auch der Katalog hat sich beträchtlich erweitert: Berliner Klassik, Veröffentlichungen aus dem vor einiger Zeit wieder entdeckten legendären Archiv der Berliner Sing-Akademie, Hofmusik aus Dresden und Ludwigslust. Auch für die Schriften der „Ständigen Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik“ ist man zuständig: Stichwort „Johann Friedrich Fasch“.

Aus dem Archiv der Berliner Sing-Akademie stammen die beiden dicken Bände mit Streichquartetten des Weimarer Hofkapellmeisters Ernst Wilhelm Wolf (1735-1792).

Schon in seinem ersten Quartett inszeniert Wolf die Vierstimmigkeit als evolutionäres Ereignis: Die zweite Geige eröffnet mit einem gradlinigen Motiv den Reigen, wird dabei von einem Cello unterstützt (dessen Stimme übrigens durchgehend mit Generalbassziffern versehen ist!) und ebenso unspektakukär wie effektvoll tritt auch die Bratsche hinzu. Als die erste Geige den melodisch ebenso anmutigen wie harmonisch reichen Gesang fortführt, zieht sich die bis dahin führende zweite Geige zurück und überlässt ihren Mitspielern das Feld. Echte Vierstimmigkeit wird erst nach vierzig Takten erreicht und hinterlässt einen umso tieferen Eindruck.

Man kann hieran sehr schön erkennen, dass Wolf kein nach bewährtem Rezept verfahrendes „Dutzendtalent“ gewesen ist, sondern ein echter Meister seines Fachs. Vor allem die demokratische Behandlung der drei Oberstimmen überrascht: nicht selten ist es – wie im 1. Streichquartett – die zweite Geige, die das musikalische Geschehen anführt. Und auch die Bratsche ist den beiden Violinen völlig gleichgestellt. Nur das Cello kann sich noch nicht recht emanzipieren und ist bewusst konservativ und nach den Grundsätzen eines funktionalen Generalbasses gestaltet. Ein Merkmal, das sich jedoch in den späteren Quartetten op. 3 vollständig verloren hat.

Stilistisch steht Wolf zwischen der C.P.E. Bachs differenziertem Sturm- und Drang-Stil und der Melodienseligkeit süddeutscher Komponisten, bietet jedoch so viel Eigenes, dass sich die Beschäftigung mit seiner Musik unbedingt lohnt.

Thomas Daniel Schlee | Jubilus





Thomas Daniel Schlee | Jubilus für Violine, Violoncello und Klavier op. 35a | Bärenreiter Verlag BA 9369 | EUR 17,95

„Es gibt Häuser in Wien, da werden die Programme nicht von einem allein gemacht, sondern von sogenannten ,Spezialisten'. Und gerade auf dem Gebiet der ,Neuen' Musik, wenn Sie da nicht in den ästhetischen Kram passen, dann kriegen Sie eine auf die Finger geklopft. Ich habe es auch an mir erlebt, dass ich den ,Hauptströmungen der Avantgarde' gegenüber ungehorsam gewesen bin, von denen man meint, ich müsse ihnen auf Grund meiner Geburt ein ganzes Leben lang dienlich sein. Nein – wieso? – ich denk nicht dran!”

- Thomas Daniel Schlee



In Österreich kennt man Thomas Daniel Schlee nicht nur als Komponisten, sondern auch als Intendanten des Carinthischen Sommers. Seit nunmehr 40 Jahren stellt die barocke Stiftskirche am Ossiacher See das Zentrum des bedeutendsten Sommerfestivals in Kärnten dar. 2007 schrieb er für die mit 300 Plätzen vergleichsweise kleine Stiftskirche die geistliche Oper „Ich, Hiob“ – nicht sein einziger Ausflug in die geistliche Musik der Moderne.

Der Vater des Komponisten war der legendäre Alfred Schlee (1901-1999), der als Direktor der Universal Edition selbst in den schwierigen Jahren der Nazi-Diktatur die bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts protegierte und an das Haus binden konnte. Sein Sohn ist unter anderem Organist, hat in Paris bei Olivier Messiaen Komposition studiert und danach in Wien Musikwissenschaft und Kunstgeschichte.

"Jubilus“ ist für das JESS-Trio geschrieben, ein Auftragswerk für das Kunsthaus Mürzzuschlag, das das kulturelle Leben in der steiermärkischen Kulturmetropole seit vielen Jahren prägt. Auch Schlee lässt sich hier gerne inspirieren, so wie vor ihm schon Johannes Brahms und Gustav Mahler.

Das gut achtminütige Trio sieht auf den ersten Blick etwas knifflig zu spielen aus. Daran hat sicherlich die auf Präzision abzielende Notationsphilosophie ihren Anteil. Wenn man sich aber erst einmal hineingefuchst hat, entpuppt sich das Werk als durchaus spielbar heraus, wozu auch das langsame Grundtempo beiträgt. In der Wahl der kompositorischen Mittel verfährt Schlee dabei ebenso unorthodox, wie es das oben angeführte Zitat vermuten lässt. Mit der Zweiten Wiener Schule ist er buchstäblich aufgewachsen – in der Wohnung seiner Mutter steht nach wie vor der Flügel von Anton Webern – und er verwendet ihre Errungenschaften ebenso selbstverständlich wie das bei Messiaen Erlernte und schafft es sogar, der latenten Zwölftönigkeit gregorianische Formsprache zu unterschieben. Das ist ebenso originell wie berührend. Manchmal muss man eben gegen die „Hauptströmungen der Avantgarde“ schwimmen…



Hans-Günther Allers, Ruppiner Trio




Hans-Günther Allers
Trio für Violine, Horn und Klavier „Ruppiner Trio“
Verlag Neue Musik NM 1218
Leihmaterial

Wie waren die Wälder finster. / Und im Winter: wie waren sie weiß. / An den Wegrändern blühte der Ginster. / Und die Sommer: Die Sommer warn heiß. / Die Tage warn blau von Lupinen. / Und morgens war die Welt neu. / Wir aßen die Sonne. Und tranken den Regen. / Und schwammen im Juni im Heu.

Eva Strittmatter


Wenn unsere Komponisten aufs Land fahren, um sich inspirieren zu lassen, kommt nicht selten etwas Schönes heraus. So auch in diesem Fall. Eigentlich lebt und arbeitet der 1935 in Trossingen geborene Hans-Günther Allers seit vielen Jahren im Fränkischen. Ein „kurzer Herbstaufenthalt im Ruppiner Land, besser gesagt eine Pilgerfahrt zum Stechlin-See“ zeigte Wirkung und inspirierte den Komponisten zum langsamen Satz, der dem bereits auf drei Sätze angewachsenen Trio noch fehlte – und gab ihm einen Namen, der Assoziationen an scheinbar endlose Naturschönheiten, kleine Fischerdörfer und schmucke Altstädte weckt. Eine Welt, die von Theodor Fontane oder der Dichterin Eva Strittmatter eindrucksvoll beschrieben worden ist.

Der erste Satz ist ein lebhaft vorandrängendes „Allegro energico“ mit häufigen Taktwechseln, der seine Sonatenhauptsatzform nur geringfügig verschleiert und sogar mit einer virtuosen Stretta-Coda endet. Der vom Ruppiner Land und der erhabenen Einsamkeit des Stechlin inspirierte langsame Satz ist eine Traummusik mit zauberisch-elegantem Mittelteil, dem eine von skurilem Humor geprägte „Bagatelle“ folgt, in dem winzige Motivpartikel kurz aufleuchten und rasch wieder verglühen. Ein lebensfreudiges „Allegro ritmico“ beschließt das Ganze und lässt noch einmal alle Instrumente zu ihrem Recht kommen.

Das 1009 in Bayreuth uraufgeführte „Ruppiner Trio“ ist zwar eine Auftragsarbeit für ein Profi-Ensemble, dennoch dürfen sich Amateure an das Werk wagen. Wer den Übefleiß nicht scheut – oder ein brillanter Blattspieler ist, wird mit zahlreichen Schönheiten belohnt.



Mieczysław Weinberg | Streichquartett Nr. 13





Mieczysław Weinberg | Streichquartett Nr. 13 | Partitur und Stimmen | Edition Sikorski 2413 | EUR 25,-


„Ich sehe es als meine moralische Pflicht, vom Krieg zu schreiben, von den Gräueln, die der Menschheit in unserem Jahrhundert widerfuhren.“

Mieczysław Weinberg


Dmitrij Schostakowitsch: der Übervater der russischen Musik des 20. Jahrhunderts warf einen langen Schatten, der den Blick auf andere Komponisten verstellte. Schostakowitschs 15 Sinfonien gehören zum eisernen Bestand der Moderne, ebenso wie die Streichquartette und die Klaviermusik und seine „Lady Macbeth von Mzensk“ wurde die russische Oper des 20. Jahrhunderts schlechthin.

Mieczysław Weinberg hingegen ist nur wenigen Musikfreunden ein Begriff. Im Jahre 1919 wird Weinberg in eine Warschauer Musikerfamilie geboren. Rasch zeigt sich eine außergewöhnliche Begabung, der Junge komponiert autodidaktisch erste Klavierstücke und Lieder, mit sechzehn auch seine erste Filmmusik. Am Konservatorium wird er von Józef Turczynski zu einem exzellenten Pianisten ausgebildet. Als Deutschland 1939 Polen überfällt, flüchtet er mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester in die Sowjetunion. Ester ist den körperlichen Strapazen jedoch nicht gewachsen und kehrt nach wenigen Kilometern um. Da sieht Weinberg sie zum letzten Mal. Erst ein Vierteljahrhundert später wird er erfahren, wo die Nazis seine Familie ermordet haben. Ein Trauma, das ihn bis ins hohe Alter verfolgt: Komponieren ist für ihn vor allem Trauerarbeit – mit Musik will er an das tragische Schicksal seiner Familie und Millionen anderer Menschen erinnern.

Seit der im vergangenen Jahr erfolgten Uraufführung seiner Oper „Die Passagierin“ auf der Seebühne der Bregenzer Festspiele scheint hat auch der Konzertbetrieb die Musik von Mieczysław Weinberg entdeckt. Und zu entdecken wäre einiges: Der enge Freund Schostakowitschs schrieb mehr Sinfonien, mehr Streichquartette und mehr Opern als dieser, und vieles davon steht den Werken seines großen Mentors in nichts nach. Schostakowitsch selbst hat das immer wieder neidlos anerkannt. Er empfahl und protegierte den vierzehn Jahre Jüngeren bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Dem Freund und Förderer ist auch das 13. Streichquartett gewidmet. Nach seinem zwölften Quartett (1969-70) legte der Komponist eine längere Pause ein, um sich vier Opern, drei Sinfonien und anderen großen Projekten zu widmen. Bis 1981 folgten dann die Quartette Nr. 13-16. Das vorliegende Werk besteht – wie auch das dreizehnte Quartett seines Freundes Schostakowitsch – aus einem einzigen Satz von ca. 15 Minuten Spieldauer. Es war Weinbergs erstes Quartett nach dem Tod Schostakowitschs. Es ist ein sehr intimes und berührendes Werk, voll gefasster Trauer und Wärme – wie ein Gespräch unter Freunden, die sich des verstorbenen Freundes erinnern. Wie Schostakowitsch hält auch Weinberg das tonale Zentrum in der Schwebe und schafft auf diese Weise ein ganz eigenes „clair obscure“.


Erschienen in Ensemble 5-2011