Montag, 31. Januar 2011

Flohmärsche und wahnsinnige Walzer: die Klaviermusik von Heinz Erhardt

„Ich war ein Wunderkind; denn ich konnte schon mit sechs Jahren und einem Finger ‚Hänschen klein‘ auf dem Klavier spielen. Fürwahr erstaunlich! [...] Plötzlich fing ich an, ernstlich Musik zu studieren und vier Stunden täglich Klavier zu üben. So war es kein Wunder, dass ich schon bald ‚Hänschen klein‘ völlig fehlerfrei mit zwei Fingern spielen konnte! Mein größter Erfolg aber war ‚Die Schlacht bei Leipzig‘! Sie ging so: ich setzte mich mit aller Kraft und dem Hinterteil auf die verschiedensten Stellen der Klaviatur, wodurch ich den Donner der Geschütze und die Einschläge der Granaten treffend demonstrierte!"

Aus Heinz Erhardts unvollendeter Autobiografie „Ich war eine frühentwickelte Spätausgabe“


Musikalienhändler hätte er werden sollen – das war eine abgemachte Sache zwischen Paul Neldner, der im lettischen Riga eine bedeutsame Musikalienhandlung betrieb und seinem etwas missratenen Enkel Heinz Erhardt, der soeben sein Abitur geschmissen hatte und ziellos durch die Straßen seiner Heimatstadt trieb. Um das Geschäft des Musikalienhändlers von Grund auf zu lernen, wurde Heinz von seinem Großvater nach Leipzig in die Lehre geschickt. Statt die großväterliche Apanage ausschließlich für seine Lehre zu verwenden, besuchte der junge Erhardt Vorlesungen am Leipziger Konservatorium, um Klavier und Komposition zu studieren – und probierte auch sein komödiantisches Talent als Stegreifkomiker auf so genannten „Bunten Abenden“ im Leipziger Studentenviertel aus. Die Lehre im ersten Musikhaus am Platze betrieb er eher nebenbei, brachte sie jedoch zu einem erfolgreichen Abschluss.  Nach zwei Jahren kehrte er nach Riga zurück und wurde offiziell im Musikhaus Neldner angestellt.

In seiner unvollendeten Autobiografie lässt Heinz Erhardt anklingen, wie unwohl er sich in diesem Beruf fühlte: „Im großväterlichen Musikgeschäft befand ich mich inmitten hehrster Kunst - dachte ich! In Wirklichkeit ist es völlig wurst, ob man mit Käse handelt oder mit Musik: Immer kauft man billig ein, um teurer zu verkaufen. Als ich diese meine rein persönliche Meinung in aller Öffentlichkeit preisgab, verhüllte mein von hanseatischem Kaufmannsgeist erfüllter Großvater sein Haupt...“ Mit der Zeit wuchs Erhardts Sicherheit, als Schauspieler – als Komiker – auf die Bühne zu gehören. Ersten Engagements in Riga folgten weitere in Berlin und schließlich der Durchbruch im deutschen Nachkriegsfilm. Die Musik geriet dabei in den Hintergrund und als sein Sohn Gero lange nach dem Tod des berühmten Vaters die berühmte „Kiste auf dem Dachboden“ öffnete, muss er nicht wenig überrascht gewesen sein, ein ganzes Bündel voller Partituren darin zu finde. Sogar eine Oper hatte der Vater komponiert…

Auch wenn die Musik in Erhardts späterem Leben nur noch eine bescheidene Rolle spielte: In den zwanziger Jahren war es ihm ernst damit – und ein angehender Musikalienhändler aus Leipzig hatte sicherlich die besten Voraussetzungen, neue und neueste Werke aus ganz Europa kennenzulernen. Die Einflüsse Strawinskys und Prokofieffs, Regers und Busonis sind klar zu erkennen. Und es wäre schon verwunderlich, wenn sich Erhardt nicht bereits hier als augenzwinkernder Verdreher von Logik und Erwartung zu erkennen gäbe. Blättert man in der nun in einem kleinen Verlag erschienenen Erstausgabe des Erhardt’schen Klavierwerk, so blickt einen gleich auf der ersten Seite der „Walzer eines Wahnsinnigen in d-moll“ mit treuherzigem Augenaufschlag an. Folgt man der Spielanweisung „Es ist sehr gut, wenn man jeden Takt in verschiedener Geschwindigkeit und Tonstärke spielt, um das Wahnsinnige zu betonen“, so wird aus dem harmlos und verwirrt klingenden Stück eine monströse Beschleunigungsfantasie, die ihren Witz aus dem Gegensatz zwischen banalem Material und pseudovirtuosem Geklingel zieht.

Entstanden ist dieser Walzer eines Wahnsinnigen im Mai 1925: dem Jahr, in dem der französische Exzentriker Erik Satie starb, Dada und Expressionismus, Maschinenmusik und Charleston unerhörte neue Klänge in die Nachkriegskultur brachten. Umgeben von diesen Einflüssen entwickelte der junge Heinz Erhardt eine private Ästhetik zwischen absurdem Musiktheater und amerikanischer Tanzmusik. Es ist die Musik eines hochbegabten Amateurs von weitläufigem Interesse, der sich stets in den sicheren Bahnen der Tonalität bewegt und etwa in Sachen Kontrapunkt und Stimmführung keine Experimente wagt. Während der allergrößte Teil dieser Musik nur noch anekdotischen Wert besitzt, könnten der skurile „Flohmarsch“ und der an Erwin Schulhoff erinnernde Foxtrott „Riga“ auch heute noch sehen lassen. Vielleicht begegnet man ihnen gelegentlich einmal im Konzertsaal wieder.

Die im Musiktotal-Verlag erschiene Auswahl aus Heinz Erhardts musikalischem Schaffen ist ordentlich gemacht, weist aber einige ärgerliche Flüchtigkeitsfehler auf – einige Präludien scheinen ebenso zu fehlen wie Verweise auf seine Theatermusiken. Und das Vorzeichen versehentlich über die Noten gedruckt wurden, wäre früher jedem Notendruckergesellen aufgefallen. Hier scheint entweder wenig Erfahrung mit klassischem Notensatz oder wenig Zeit für eine Korrekturphase im Spiel gewesen zu sein. Ärgerliche Flecken auf einer ansonsten empfehlenswerten Ausgabe!



Heinz Erhardt
… mal klassisch
Klavierkompositionen von 1925 – 1929
Verlag Musiktotal
ISBN13: 9783938967492
EUR 19,95

Sonntag, 30. Januar 2011

William H. Chapman Nyaho und die Musik der afrikanischen Diaspora

William H. Chapman Nyaho
Piano Music of Africa and the African Diaspora
Band 1: Early Intermediate
Oxford University Press
ISBN 978-0-19-386822-9

Es scheint, als betrachte die klassische europäische Musikszene Afrika noch immer durch eine koloniale Brille: Als Kontinent, dessen Musik im Wesentlichen aus Stammestänzen oder Popmusik mit merkwürdigen Rhythmen besteht. „Afrikanische Klaviermusik“ hingegen scheint immer noch ein Widerspruch in sich zu sein – anders ist es wohl kaum zu erklären, dass die vorliegende Sammlung tatsächlich die erste ihrer Art ist.

Die vier Bände "Piano Music of Africa and the African Diaspora" schließen eine Lücke, die von vielen Musikern wahrscheinlich gar  nicht als eine solche empfunden wird: Klaviermusik von afrikanischen und afrikastämmigen Komponisten, die sich auch für den Einsatz im Klavierunterricht eignet. Keine groß angelegten Konzertwerke für Profis also, sondern kurze aber prägnante und vor allem – in musikalischer Hinsicht exzellente Klavierstücke  von einfachem und mittleren Schwierigkeitsgrad. Eigentlich als pädagogisches Werk angelegt, dürfte „Piano Music of Africa and the African Diaspora” jedoch nicht nur für Klavierlehrer und ihre Schüler von Interesse sein, sondern überhaupt für entdeckungsfreudige Musiker.

Die Auswahl in dieser Sammlung vertretenen Komponisten spiegelt die Mannigfaltigkeit afrikanischer Musik: die 1935 in New York geborene Jazzpianistin Valerie Capers, die mit einem Ausschnitt aus ihrem Triptychon Portraits in Jazz vertreten ist (dem Ragtime „Sweet Mister Jelly Roll“) trifft auf die ägyptische Sufi-Mystik von Halim El-Dabh, der bei Aaron Copland und Igor Stravinsky studierte, bevor er einer der bedeutendste Komponist Ägyptens wurde (wieder eine Bildungslücke…). Wir treffen auf nigerianische und ghanaische Komponisten wie Christian Onyeji oder Kwabana Nketia, die auf der Basis traditioneller Ritualmusik bemerkenswerte Miniaturen schaffen.

Die „African Sketches“ von Nkeiro Okoye aus Nigeria und die „Preludes in African Rhythm“ des Südafrikaners hätte man gerne vollständig gespielt: „Dusk“ und „Dancing Barefoot In The Rain“ aus Okoyes afrikanischem Skizzenbuch, wirken wie Ausschnitte aus afrikanischen „Kinderszenen“: Phantasievolle Rhythmen treffen auf eine ungewöhnliche Harmonisierung und berührende Melodik.

Beinahe der gesamte Inhalt dieser Sammlung besteht aus bislang unveröffentlichtem Material. Vielelicht gelingt es William H. Chapman Nyaho tatsächlich, mit „Piano Music of Africa and the African Diaspora” Interesse für eine bislang sträflich vernachlässigte Musik zu wecken. Zu wünschen wäre es ihm.







Samstag, 29. Januar 2011

Hamburg und der „stilo fantastico" - Claviersonaten von Johann Mattheson in der Edition Walhall



Über Johann Mattheson, geboren 1681 in Hamburg und dort auch 83 Jahre später gestorben, wissen wir (wenn wir nicht im Musiklexikon nachlesen) nicht besonders viel. Den Kritischen Musicus hat er herausgegeben – Deutschlands erste Musikzeitschrift. Opern hat er komponiert und sich als junger Mann mit Händel duelliert; wegen „künstlerischer Differenzen“. Sein Degen streifte angeblich Händels Tabakdose, die dieser über der Brust trug, was – wenn es wahr – ist, zwei Dinge beweist: Mattheson nahm seine Ehrenpflicht wirklich ernst und wollte dem verhassten Kontrahenten ernsthaft ans Leder und außerdem, dass Tabakgenuss zuweilen lebensverlängernd wirken kann. Zum Glück kam es anders. Irgendwann beruhigten sich die Streithähne, gingen sich in St. Georg oder dem Gängeviertel besaufen und nahmen sich vor: „Irgendwann schreiben wir mal eine Oper zusammen!“. Was sie auch tatsächlich taten: „Armida“ heißt das gemeinsame Kind dieser künstlerischen und persönlichen Freundschaft und ist ein barockes Meisterwerk. Dem leider keine weiteren folgten. Mit 24 Jahren begann Mattheson, sein Gehör zu verlieren, mit dreißig war er taub und musste sich einen anderen Brotberuf suchen: der junge Hannes wurde Legationssekretär und betrieb die Musik nur noch als passionierter Privatier, der sich vor allem als Autor zahlreicher theoretischer Schriften einen Namen machte.

Dass er ein Komponist von Format gewesen war, der einiges zu sagen hatte, demonstrieren eindrucksvoll die in der Edition Walhall erschienenen „Pieces de Clavecin“. Vor mir liegt der erste von zwei Bänden mit Suiten mit den klassischen Elementen Prelude, Allemande, Double, Courante, Air, Sarabande oder Gigue, die jedoch in jeder Suite anders angeordnet werden. Mal vertritt eine „Toccatine“ die Form der Ouvertüre, mal eine Allemande und zuweilen findet sich bereits ein Menuett.

Verblüffend ist der Einfallsreichtum und die Unbekümmertheit, mit der Mattheson bei der Komposition vorgegangen ist: Wenig ist zu spüren von der stereotypen Wiederholung verbreiteter Floskeln. Selbst da, wo sich der Autor an der Formensprache seiner Zeit orientiert, ist Mattheson immer um eine originelle Wendung bemüht. Mit Händels abgeklärter Schlichtheit hat dies ebenso wenig zu tun wie mit Bachs detailverliebter Genauigkeit. Beinahe scheint es, als wolle Mattheson dem „stilo fantastico“ neues Leben einhauchen. Bizarre Sprünge in entlegene Harmonien und überraschende „Haken“ verweisen den selbstsicheren „Vom-Blatt-Spieler“ in seine Schranken. Was leider auch ein wenig an der von Jolando Scarpa betreuten Ausgabe liegt, deren Druckbild gedrängt wirkt und der ein paar Dutzend Sicherheitsvorzeichen ebenso wenig  geschadet hätten wie die eine oder andere klärende Fußnote.



Johann Mattheson
Pieces de Clavecin
Suiten 1-6
Herausgegeben von Jolando Scarpa
Edition Walhall EW 652
EUR 19,50

Freitag, 28. Januar 2011

Dmitri Schostakovitsch: Präludien und Fugen für Klavier - ein Gespräch mit Alexander Melnikov

Alexander Melnikov gehört zu den spannendsten Protagonisten der internationalen Konzertszene. Als „russischer Pianist“ gebucht, beherrscht er natürlich die Schlachtrösser der Konzertliteratur, tritt mit allen großen Orchestern und reißt mit seinen virtuosen Interpretationen seine wachsende Fangemeinde zwischen New York, Berlin und Tokyo zu Beifallsekstasen hin. Seine zweite große Leidenschaft gilt jedoch der historischen Aufführungspraxis. Mit dem Fortepiano-Guru Andreas Staier ist er eng befreundet, besitzt einen historischen Bösendorfer-Flügel und spielt oft und gerne Kammermusik mit der ebenso virtuosen wie tiefgründigen Isabelle Faust. Nach zwei Solo-CDs mit Musik von Scriabin und Rachmaninoff hat er im letzten Jahr eine Einspielung der Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch vorgelegt. Ich habe mich mit damals mit ihm in seiner Berliner Wohnung zum Interview getroffen. 
 



Berlin, Anfang 2010. Der außergewöhnlich strenge Winter, der seit Wochen über dem ganzen Land liegt, hat auch in der Hauptstadt deutliche Spuren hinterlassen. Stadtreinigung und Grünflächenamt haben den Rückzug aus der Fläche beschlossen und so sind nicht nur die Gehsteige an den Nebenstraßen von spiegelglattem Eis und metertiefen Schneeverwehungen bedeckt, sondern auch die Hauptverkehrsadern der Stadt: zwischen Kurfürstendamm und  Friedrichstraße, Buckower Damm und Frankfurter Allee bewegen sich die Menschen im Gänsemarsch und in Zeitlupe. Die paar hundert Meter zwischen U-Bahn-Station und Haustür lege ich extrem vorsichtig zurück – und bin dabei nicht der Einzige.

Alexander Melnikov ist Schlimmeres gewohnt. „Hey, ich komme schließlich aus Moskau. Da sind wir ganz andere Winter gewohnt“, sagt der trotz seiner fünfunddreißig Jahre immer noch jungenhaft wirkende Pianist zur Begrüßung, als ich mich in der Haustür der schweren Stiefel entledige und in typisch russischer Manier in weiche Hausschuhe schlüpfe. Er hat die Wohnung vor kurzem gekauft, weil sie auf halber Strecke zwischen seinen beiden „Heimatorten“ Moskau und Paris liegt – und weil sie im Vergleich zu den Immobilienpreisen der anderen Metropolen unschlagbar billig war.

Die großzügige Altbauwohnung wirkt so, als würde sein Besitzer nicht allzu viel Zeit in ihr verbringen. Während mein Gastgeber die multifunktionale Kaffeemaschine in Gang setzt, sehe ich mich um: im Arbeitszimmer ersetzt eine große Holzplatte auf zwei Böcken den Schreibtisch, daneben ein hochwertiges Digitalklavier mit moderner Flügelmechanik und Kopfhörer – nicht jeder Nachbar hat Verständnis dafür, dass auch international gefragte Spitzenpianisten ab und zu üben müssen. In einem abgedunkelten Nebenraum steht ein 130 Jahre alter Bösendorfer-Flügel.

Melnikov lädt mich ein, ihn auszuprobieren, schiebt mir den Klavierstuhl zurecht und beobachtet interessiert meiner Reaktionen, als ich ein paar Mendelssohn-Akkorde anschlage. Ich staune über den warmen und dunklen Klang,  der an eine Kombination von Bratschen und Violoncelli erinnert und darüber, wie samtig-schwer und dennoch federleicht sich die Tasten anschlagen lassen.

„Ein wunderbares Instrument, nicht wahr?“, sagt Melnikov.  „Man kann eigentlich nur Brahms darauf spielen – aber dafür eignet er sich wie kaum ein anderes Instrument.“ Vor zwei Jahren hat er auf diesem Flügel eine CD eingespielt: das Trio op. 40 von Johannes Brahms, gemeinsam mit dem Hornisten Teunis van der Zwaart und der Geigerin Isabelle Faust. Mit ihr spielt er regelmäßig zusammen, die beiden verbindet eine künstlerische und persönliche Freundschaft, die weit zurückreicht:


 „Ich kenne Isabelle schon lange, aber wir haben zunächst nicht miteinander musiziert. Wir haben uns das eine oder andere Mal auf Festivals getroffen und ich erinnere mich, dass ich vom ersten Moment an von ihrem Spiel begeistert war. Vor einigen Jahren habe ich in Moskau ein Festival mit Kammermusik von Franz Schubert organisiert: die Violinsonaten etwa oder die Wandererfantasie. Kurz bevor es losgehen sollte, sagte mir ein Geiger nach dem anderen ab. Ich habe dann in einem Anfall höchster Verzweiflung Isabelle angerufen – wir waren uns ja bereits einige Male begegnet und sie hatte mir auf einem Festival in Oxford ihre Telefonnummer gegeben. Ich hätte nie gedacht, dass sie für ein solches Projekt nach Moskau kommen würde, noch dazu ohne Gage. Aber sie hat sofort zugesagt. Seitdem spielen wir regelmäßig zusammen.“

Die Geigerin war es auch, die ihren Kollegen bei ihrer Plattenfirma harmonia mundi einführte – das mittlerweile auch das Label von Alexander Melnikov ist. Die gemeinsame Arbeit für das Label begann mit zwei Klaviertrios von Antonín Dvořák, für die sie den Cellisten Jean-Guihen Queyras an Bord holten. Mittlerweile ist die sechste Veröffentlichung des Duos erschienen – eine Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten auf vier CDs und einer DVD. Es scheint, als habe sich hier ein echtes Traumpaar gefunden: zwei Virtuosen, denen die gesamte Palette technischer Perfektion zur Verfügung steht, die sich davon jedoch nicht zur oberflächlichen Effekthascherei verführen lassen.

Melnikov genießt die grundehrliche und dennoch virtuose Art des Musizierens mit der in Berlin lebenden Geigerin. Genau hinschauen und die richtigen Fragen stellen, das ist auch typisch für den 1973 in Moskau geborenen Ausnahmepianisten. Und wenn es erforderlich ist, wird auch gerne die Löwenpranke des russischen Pianisten ausgepackt. Früher hat Melnikov damit kokettiert, dass er eigentlich gar nicht so gerne vor Publikum auftrete – lieber genieße er die Möglichkeit, Musik in der konzentrierten Ruhe eines Studios aufzunehmen. Das Publikum als Stimulans für das eigene Spiel, das sei ein Konzept, das für ihn nicht funktioniere, hat er in früheren Interviews einmal bekannt. Mittlerweile sieht er die ganze Angelegenheit deutlich entspannter: „Natürlich spiele ich gerne vor Publikum – warum habe ich sonst diesen Beruf gewählt?“

Alexander Melnikov befördert Zucker und Kekse aus dem Schrank und wir reden über Stereotype und Vorurteile in der Musik, die Zwänge des Marktes und die Wahrnehmung des Publikums. Von einem russischen Pianisten wird natürlich erwartet, dass er ein bestimmtes Repertoire bedient: Rachmaninoff, Chopin, Tschaikowsky… Und auch Melnikov macht das Spiel mit, schleudert donnernde Oktaven in die Konzertsäle, lässt fingerbrechende Läufe perlen und stellt internationale Geschwindigkeitsrekorde auf. Doch seine Liebe und Leidenschaft gilt der historisch-informierten Spielpraxis, die er ebenso lustvoll wie selbstverständlich auch auf Komponisten wie Rachmaninoff oder Schostakowitsch überträgt. Nach seinem Studium in Moskau hat er noch ein Jahr mit Andreas Staier studiert, dem Doyen der historischen Tastenfraktion. Aus dem Lehrer von einst ist längst ein enger Freund geworden – und Melnikov leitet inzwischen selbst eine Klavierklasse an der Musikhochschule von Manchester.

Neben einer Reihe von hochgelobten Kammermusik-CDs hat Alexander Melnikov  in den letzten Jahren zwei Tonträger mit Klaviermusik von Scriabin und Rachmaninoff eingespielt: Auch hier (wie sollte es anders sein) unter Verzicht auf die Gassenhauer des Betriebs. Von Rachmaninoff hat er ausgerechnet die düsteren Corelli-Variationen aufgenommen. In diesen Tagen erscheinen nun die 24 Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch – auf zwei CDs und einer DVD.





Rösler
Herr Melnikov, in diesen Tagen erscheint Ihre Gesamteinspielung der 24 Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch bei harmonia mundi. Sie haben sich bereits zweimal auf Ihren Solo-CDs mit russischen Klavierkomponisten beschäftigt – Alexander Scriabin und Sergej Rachmaninoff. Und nun Dmitri Schostakowitsch. Drei Komponisten, von denen wir ein starkes Bild zu haben glauben:  Schostakowitsch, der tapfere kleine Mann, der unter einem unmenschlichen Regime wunderbare und welterschütternde Musik schreibt; Rachmaninoff, der Inbegriff des genialischen Klavierkomponisten, der von Hollywood wie ein Filmheld in Szene gesetzt wird und schließlich Scriabin, der merkwürdige Sektierer, der am Totenbett des berüchtigten Satanisten Alastair Crowley Klavier spielt…


Melnikov
… ich glaube, dass über Rachmaninoff sogar noch viel größere Vorurteile existieren. Ich habe manchmal das Gefühl, seine Musik gegen seine Liebhaber verteidigen zu müssen, was völliger Blödsinn ist, denn seine Musik ist ja wirklich sehr bekannt. Aber es gibt eine große tragisch-heroische Aufführungstradition, gegen die man kaum ankommt. Viele Musikliebhaber haben ein Bild von seiner Musik, die sie auf einige wenige Werke reduziert – melodienselig und „dramatisch“, fast schon Kitsch. Er hatte das Unglück, wunderbare Melodien schreiben zu können, so dass die meisten Leute nicht auf die Idee kamen, dass mehr dahinter stecken könnte.

Rösler
Sie haben für Ihre Rachmaninow-CD ein Bild des Komponisten herausgesucht, auf dem er geradezu gespenstisch abgezehrt und sehr „unheroisch“ aussieht…

Melnikov
Es freut mich sehr, dass Sie das bemerkt haben! Es ist eigentlich aus einem Film, den ich gesehen habe, als ich einen Freund in Amsterdam besucht habe. Ich mag es sehr, weil es so düster und depressiv ist. Und ich fand es einfach unglaublich – genau so wollte ich, dass diese Musik klingt.

Rösler
Scriabin gilt ja als der große Mystiker unter den russischen Komponisten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Wie haben Sie sich ihm genähert?

Melnikov
Nachdem ich gefühlte tausend Seiten mit seinen Gedichten und pseudo-philosophischen Theorien gelesen habe, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es mehr oder weniger „Quatsch“ ist [im Original deutsch]. Sie können in den mystischen Schriften den einen oder anderen interessanten Gedanken finden, mehr jedoch nicht. Aber seine Musik bleibt bestehen und sie ist fantastisch.

Rösler
Auch Schostakowitsch gehört zu der Gruppe von Komponisten, von denen wir eine klare Vorstellung zu haben glauben, wie ihre Musik klingt, welche Gedanken ihren Komponisten angetrieben haben…

Melnikov
Ich hatte das Gefühl, dass es mit der Aufnahme der 24 Präludien und Fugen von Schostakowitsch möglich sein würde, etwas Neues zu erschaffen, ohne zu versuchen, vorsätzlich etwas Neues zu schaffen. Ich glaube, dass man sich mit dieser Musik einfach noch nicht intensiv genug beschäftigt hat. Vor allem glaube ich, dass es nicht möglich ist, dieses Werk als gelungenes Gesamtkunstwerk zu erfassen, wenn man sich nicht vor Augen führt, wie und wann es entstanden ist.

Rösler
Schostakowitsch musste seine Tonsprache 1936 unter dramatischen Umständen ändern, nachdem seine Oper  „Lady Macbeth von Mzensk“ indem berüchtigten Prawda-Artikel vernichtend kritisiert worden war.

Melnikov
Und obwohl die Vorgaben des Sozialistischen Realismus lächerlich und unsinnig waren, hat er dennoch aus ihnen ein neues musikalisches Idiom entwickelt, das wir etwa in der 5. Symphonie und den späteren Werken finden. Eine Tonsprache, die die perfekt war für eine Musik, die die unglaublichen Gräuel des letzten 20. Jahrhunderts abbildet, wo auch immer sie verübt worden sind. Aus diesem Idiom ist Schostakowitschs Spätstil gewachsen, dem wir auch in den Präludien und Fugen begegnen.

Rösler
Bei einem solchen Werk aus Präludien und Fugen in verschiedenen Tonarten denkt man natürlich sofort an das „Wohltemperierte Klavier“. Hat sich Schostakowitsch an Bach orientiert oder hat er eigene Wege gesucht?

Melnikov
Ich denke, dass man diesen 24 Präludien und Fugen vor allem anmerkt, dass sie in unglaublich kurzer Zeit entstanden sind – in nur zweieinhalb Monaten. Wenn man sich das ausrechnet, bedeutet das, dass er fast jeden Tag ein Stück geschrieben haben muss. Und man erkennt eine unglaubliche Dynamik in ihnen. Er hat eines Tages angefangen und irgendwann muss es ihn regelrecht gepackt haben. Die ersten Fugen sind noch relativ kurz und beinahe akademisch und in der zweiten Hälfte werden sie immer ausladender. Es gibt dabei durchaus Verweise auf die Tradition, in dem er etwa Zitate verwendet: nicht nur von Bach, sondern auch von Beethoven, Prokofieff – und sogar von sich selbst.

Ich denke, es war für Schostakowitsch sehr wichtig, sich eine sehr strenge Form zu wählen, um zu sehen, zu welcher Meisterschaft man es darin bringen kann. Er hat ein unglaublich kompliziertes und eigenwilliges tonales und modales System entwickelt, das bis heute noch gar nicht richtig beschrieben worden ist. Das ist wie ein künstliches Hindernis, das er aufbaut, um es sich selbst nicht zu leicht zu machen und zu neuen Ergebnissen zu kommen.

Rösler
Können Sie ein Beispiel nennen?

Melnikov
Zum Beispiel, indem er ein Fugenthema wählt, das als Fugenthema völlig ungeeignet ist – und damit eine Fuge komponiert. Oder in den Präludien, wo er ständig mit der Form experimentiert. Er nimmt zum Beispiel die klassische Sonatenform und bemüht sich, alle ihre typischen Elemente auf zwei Seiten unterzubringen: Einleitung, Exposition, Durchführung, Reprise, Coda – es ist alles drin...

Rösler
Und klingt in dieser Häufung fast schon ironisch…

Melnikov
Ja! Die Vielfalt dieser Präludien ist unglaublich: nehmen Sie einmal die Nr. 15, die ganz dem 20. Jahrhundert verpflichtet ist und beinahe wie Stummfilmmusik klingt – und mit einer Fuge endet, die ganz deutlich an die Zweite Wiener Schule erinnert. Und das darauf folgende Präludium Nr. 16 ist wieder ganz anders und hat ihre Wurzeln im Barock, ja eigentlich sogar in der mittelalterlichen Musik hat. Auf das feierliche Präludium folgt eine höchst ungewöhnliche Fuge, in der schon das Thema ein einziger siebzehn Zählzeiten langer Takt ist. Jeder Kenner der Alten Musik würde es vielleicht im späten 17. oder frühen 18. Jahrhundert verorten und wahrscheinlich gar nicht glauben, dass es von Schostakowitsch stammt.

Rösler
Welche Bedeutung hat die Musik von Dmitri Schostakowitsch für die Neue Musik von heute?

Melnikov
Nun, die drei Jahrzehnte nach seinem Tod haben gezeigt, dass seine Leben und seine Musik immer noch Gegenstand heftiger Kontroversen sind – ähnlich wie bei Richard Wagner. Er war ein vielschichtiger und sicherlich auch schwieriger Mensch, die Welt in der lebte, war verworren und lebensbedrohlich, oft verzweifelt und er ist einige Male mit dem Tod bedroht worden. Der Musikwissenschaftler Levon Akopian sagt von den Präludien und Fugen, diese Musik sei zweifellos für die Ewigkeit geschrieben. Er hält es für bemerkenswert, dass es in der finstersten zeit der Geschichte der Sowjetunion und Schostakowitschs Leben entstanden ist: unmittelbar nach den Schrecknissen des Schdanow-Dekrets von 1948…


Rösler
… die eine Ära repressiver Kulturpolitik einleiteten, der auch Schriftsteller wie Pasternak und Soschtschenko oder Regisseure wie Eisenstein zum Opfer fielen…

Melnikov
… und das ihn zum zweiten Mal beinahe das Leben gekostet hätte. Es muss eine gewaltige Anstrengung gewesen sein, all das zu vergessen und einfach nur diese 24 Präludien und Fugen zu komponieren. Man ist versucht, nach Spuren dieses persönlichen Leids in der Musik zu suchen – aber Antworten findet man immer nur in der Musik selbst.



Donnerstag, 27. Januar 2011

Echos der Shoah: die Kammermusik von Mieczysław Weinberg

Vielleicht ist es auch der hartnäckigen Arbeit seines Verlages zu verdanken, dass die Musik des 1919 in Warschau geborenen Mieczysław Weinberg mehr und mehr Aufmerksamkeit erfährt. Bei den diesjährigen Bregenzer Festspielen ist ihm beispielsweise nicht nur ein ganzes Symposium gewidmet – auch die Politoper „Der Passagier“ wird nach Jahren der Abstinenz wieder einmal auf einer deutschsprachigen Bühne zu sehen sein.


Ein Leben auf der Flucht. Als am 1. September 1939 die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte, floh der 20jährige jüdische Musikstudent Mieczysław Weinberg Hals über Kopf in die Sowjetunion und beendete seine Studien in Minsk. Sein Vater, ein Theatermusiker, und seine Mutter blieben in Warschau zurück und überlebten die Shoah nicht. Als die Wehrmacht 1941 vor Minsk stand, musste er wieder seine Koffer packen und zog sich in usbekische Taschkent zurück – nicht gerade das Zentrum der europäischen Musikwelt. Es war Dmitri Schostakowitsch, der ihn da herausholte, nachdem Weinberg seinem großen Vorbild die Partitur seiner 1. Symphonie geschickt habe. Schostakowitsch besorgte ihm ein Auskommen in Moskau und wurde ihm ein lebenslanger Freund und Mentor. 1996 starb Weinberg in Moskau – ein Teil seines beachtlichen Werkes erscheint nun bei peer music.

Da wäre zunächst das 4. Streichquartett op. 20 – komponiert 1945 in seinen ersten Moskauer Jahren. Es erinnert mit seinem liedhaften Kopfthema in Es-Dur ein wenig an Schostakowitsch und auch die durch alle (Schein)tonarten springende Verarbeitung lässt Einflüsse des verehrten Freundes erkennen. Und auch die Abgründe, die sich unter der bukolischen Atmosphäre verbergen, man kennt sie aus den ähnlich doppelbödigen Kompositionen des älteren Kollegen. Der zweite Satz trägt Toccaten-Form und ist in seiner wilden Mischung aus Prokofieff und Mendelssohn ohne Vorbild. Ein Meisterstück und eine neue Farbe in der Kammermusik des 20. Jahrhunderts. Gänzlich fahl und schattenhaft der langsame dritte Satz, „Largo marciale“, dessen gespenstische Rhythmen und die einsam über der Szenerie schwebende Solo-Violine eine Atmosphäre des erstarrten Schreckens transportieren, wie wir sie in vielen Kompositionen der unmittelbaren Nachkriegszeit finden. Dass auf eine solche Seelenentäußerung nur ein haltsuchend-taumelndes Dur-Finale folgen kann, dessen chaotische Arpeggio-Figuren mit einem fulminanten Moll-Schluss vor die Wand gefahren werden, ist da nur folgerichtig.

Drei Jahre nach dem Ende des „großen vaterländischen Krieges“ musste Weinberg erneut um sein Leben fürchten: seine Musik stand (neben der vieler anderer Kollegen) auf einer Liste mit verbotenen Werken – Stichwort „Anti-Formalismus-Kampagne“. Und weil eine antisemitische Geisteshaltung auch in der KPdSU zum guten Ton gehörte, musste sich Weinberg auch noch als „Kosmopoliten“ bezichtigen lassen. Wie die meisten seiner Kollegen reagierte auch er mit einem Trick: er ließ einfach einen höheren Anteil volkstümlicher Elemente in seine Musik einfließen.
Eines der unter dieser Vorzeichen entstandenen Werke ist das dreisätzige Trio für Violine, Viola und Violoncello op. 48 in a-moll, das vor allem im Finale mit Klezmer-Anklängen aufwartet. Auch hier ist eine Seelenverwandtschaft zu Schostakowitsch freilich nicht zu leugnen. Besonders der erste Satz beeindruckt durch die Freiheit seiner Motivwiederholungen und die kluge Architektur, die der Spannungsschraube bis zum Ende immer noch eine weitere Drehung versetzt. Der Mittelsatz präsentiert sich als (mit Dämpfern zu spielende) Adagio-Fuge, die ihre strenge Form jedoch sachte auflöst und zum Ende in eine ätherische Modulation mutiert. Geradezu störrisch und trotzig präsentiert sich das Finale, das ein wenig wirkt, als habe der Komponist die von ihm verlangte „Abkehr vom formalistischen Denken“ den Kulturdiktatoren mit abfälliger Geste vor die Füße werfen wollen. Eine klezmerartige Melodie wird bohrend wiederholt und dabei auf eine gleichförmige Kette von orgelpunktartigen Sechzehntelwiederholungen gestellt. Und irgendwann ist das Stück halt zu Ende. Der lakonische Witz dieses Finales ist großartig – und dürfte auch von den Zeitgenossen erkannt worden sein.

Notenausgaben
Streichquartett Nr. 4, op. 20 | Peer Musik 3540 (Stimmensatz) / 3540a (Partitur)
Trio op. 48 für Violine, Viola und Violoncello | Peer Music 3706 (Partitur und Stimmen)

Dienstag, 25. Januar 2011

Komponieren gegen die Barbarei - Kammermusik von Franz Schmidt

Man muss sich Franz Schmidt wahrscheinlich als einen unglücklichen Menschen vorstellen. Trotz aller seiner beruflichen Erfolge: Mitglied der Wiener Philharmoniker, Solocellist der Wiener Hofoper, Professor für Klavier an der Wiener Musikakademie, deren Rektor er später wurde, gefeierter Komponist einer Oper „Notre Dame“, deren Zwischenspiel immer noch zum eisernen Bestand jedes Orchesterwunschkonzertes gehört… 
Zwei Jugendlieben blieben unerfüllt. Seine erste Frau dämmerte ab 1919 in der Wiener Heilanstalt „Am Steinhof“ dahin, um drei Jahre nach dem Tod des berühmten Gatten im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Kampagne ermordet zu werden. Die einzige Tochter Emma starb nach der Geburt ihres ersten Kindes. Der gebrochene Vater schuf danach seine 4. Symphonie als „Requiem für meine Tochter“.

Als Franz Schmidt sich schon auf das Sterben vorbereitete, marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein und streckte Reichspropagandaminister Goebbels auch seine Krallen nach dem 64-jährigen Komponisten aus, der nach dem Tod Alban Bergs und Franz Schrekers, der Emigration von Arnold Schönberg und Alexander Zemlinsky als der bedeutendste Komponist der „Ostmark“ galt. Das Regime „beehrte“ den mit dem Auftrag, eine Kantate zur Feier des „Anschlusses“ zu schreiben. Die „Deutsche Auferstehung“ wurde vom Regime eingefordert, der Komponist ließ das Werk jedoch unvollendet liegen und schuf noch zwei inspirierte Auftragswerke für den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein: das Klarinettenquintett in A-Dur und die Toccata d-Moll – beendet im Sommer und Oktober 1938, wenige Monate vor seinem Tod.

Nun ist diese im doppelten Sinne bemerkenswerte Musik endlich in einer wunderschönen Notenausgabe erhältlich – und diese fördert wahre Wunderschätze zutage. Gleich drei Quintette für Klavier in der ungewöhnlichen Besetzung mit linker Hand allein (sie sind alle Paul Wittgenstein gewidmet) und Klarinettenquartett geschrieben; lediglich das 1926 entstandene G-Dur-Quintett stellt dem Klavier ein normales Streichquartett gegenüber.


Schmidts Stil lotet anmutig ein weites Feld aus, das zwischen Spätromantik, Historismus und böhmisch-ungarischer Volksmusik verortet ist. Es ist eine Musik der unvereinbaren Gegensätze, die gleichfalls empfindsam und distanziert klingen kann und ihre größten Empfindungen unter klassischen Formen verbirgt. Man ist versucht zu schreiben: Schmidt ist die diatonische Dependance der 2. Wiener Schule. Wer etwa das jüngst wieder häufig zu hörende Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ im Ohr hat, der wird diesen eigenartigen Stil sofort auch in den drei Quintetten wiedererkennen.


Der Beginn des A-Dur-Quintetts etwa mit seinen vorsichtig tastenden Trippelschritten, die gleichermaßen an Bruckners symphonische Scherzi als an eine Musik für einen tschechischen Zeichentrickfilm erinnern, findet in der Kammermusik so schnell kein Ebenbild. Und dem wunderbaren Variationensatz auf ein Thema von Josef Labor (dem Lehrer Paul Wittgensteins), bei dem man nicht weiß, ob man vor Glückseligkeit lachen oder weinen soll, wünscht man ganz schnell viele neue Freunde. Man spürt: hier komponiert einer gegen die Barbarei an und schließt das Tor zu einer besseren Welt leise hinter sich zu. Von nun wird es Nacht in Europa.


Notenausgaben
Quintett in A-Dur für Klavier linke Hand, Klarinette in A, Violine, Viola und Violoncello | Herausgegeben von Georg A. Predota | Josef Weinberger | ISMN 50083-328-4 | EUR 35,-


Quintett in B-Dur (1932) für Klavier linke Hand, Klarinette in B, Violine, Viola und Violoncello | Josef Weinberger | ISMN 50083-326-0 | EUR 33,-


QUINTETT in G-DUR (1926) für Klavier linke Hand, zwei Violinen, Viola, Violoncello | Josef Weinberger Verlag | ISMN 50083-325-3 | EUR 35,-

Sonntag, 16. Januar 2011

Die Arbeit eines Künstlers ist nur ein Echo auf das Wort Gottes





Ich glaube, dass Musik etwas ist, was Menschen wirklich brauchen und dass seine Bedeutung ausschließlich darin liegt, wie sehr ein Hörer in der Lage ist sie zu verstehen. Jeder Mensch sollte wissen, wie man Musik „benutzt“. Nicht nur Musik – auch Literatur, Malerei oder Film. Tarkowski hat gesagt: „Kunst ist Gebet”. Das möchte ich unterstreichen. Aber ist schwierig zu verstehen: man muss in diese Denkweise hineinwachsen. Für viele Menschen besteht ein Gebet darin, das „Ave Maria“ aufzusagen – aber man kann das „Ave Maria“ viele Male aufsagen und es wird nicht notwendigerweise ein Gebet. Olivier Messiaen hat mir einmal in Kattowitz gesagt, er sei ein Mann des Gebets. Aber was tut er? Er schreibt seine Noten nieder und hört den Vögeln zu. Soll das ein Gebet sein?

Henryk Mikołaj Górecki


Am 12. November 2010, wenige Wochen vor seinem 77. Geburtstag starb Henryk Mikolaj Górecki in seiner schlesischen Heimatstadt Katowice. Der polnische Komponist, der vor allem durch seine 3. Sinfonie, die „Sinfonie der Klagelieder“ zu weltweiter Bekanntheit gekommen war, hatte den zahlreichen Krankheiten, die ihn sein ganzes Leben begleiteten, am Ende nichts mehr entgegenzusetzen. Die Welt hat einen Komponisten verloren, dessen Musik sich nur schwer einer bestimmten Kategorie zuordnen lässt.

Henryk Górecki wurde am 6. Dezember 1933 in Rybnik geboren und studierte Komposition bei Boleslaw Szabelski an der Staatlichen Hochschule für Musik in Katowice. Nach einem Studienaufenthalt In Paris wurde er zum Professor an derselben Hochschule ernannt und 1975 sogar zu ihrem Rektor gewählt. Ein Amt, von dem er jedoch vier Jahre später unter dem Eindruck der politischen Entwicklungen wieder zurücktrat. Seitdem lebte er zurückgezogen in seiner Heimatsdtadt Katowice und komponierte.

Obwohl seine Musik in Polen oft aufgeführt wurde, blieb er außerhalb der Grenzen seines Heimatlandes nahezu ein Unbekannter. Was vielleicht auch daran lag, dass Górecki der Prototyp des ein wenig versponnenen Einzelgängers gewesen ist, der sich wenig um Publicity scherte, Interviews und Pressekonferenzen scheute und das Kronos-Quartett schon einmal zwölf Jahre auf eine in Auftrag gegebene Komposition warten ließ. Und auch eine ganze Reihe schwerer Krankheiten schränkten seinen Lebensstil mehr ein, als ihm möglicherweise lieb war.

Dieser Zustand änderte sich erst 1993, als die bereits 1976 geschriebene 3. Symphonie, die „Symphonie der Klagelieder“ an die Spitze der britischen Pop-Charts stürmte und sich über eine Million mal verkaufte. Dieser für einen modernen Komponisten unglaubliche Erfolg hat viele seiner Kollegen und Freunde verblüfft, besonders in Polen, wo man das Werk schon lange kannte. In seiner Heimat galt Góreckis Dritte als Teil einer ganzen Reihe faszinierender Kompositionen, die am Ende eines langen und komplexen künstlerischen Weges standen.

Górecki hat viele Jahre damit zugebracht, seine eigene Stimme zu finden – indem er die Techniken seiner Vorgänger wie Bela Bartók, Karol Szymanowski aufnahm und sich mit der Musik seiner Zeitgenossen beschäftigte: Pierre Boulez etwa, aber auch Iannis Xenakis und Luigi Nono. Zusammen mit Penderecki, Serocki und anderen gehörte Górecki zu den radikalen Neutönern seiner Zeit – nachzuhören etwa in der 1969 komponierten „Muzyka Staropolska”, der altpolnischen Musik für Blechbläser und Streicher oder dem agressiven „Scontri“ für großes Orchester, einem Werk voller (oft seriell organisierter) krachender Zusammenstöße von horizontal und vertikal geführten Pattern.

In den siebziger Jahren arbeitete Górecki daran, eine Verbindung zwischen seiner von Avantgarde-geprägten Musik und seiner tiefen Religiosität (wie die meisten seiner Landsleute war auch Górecki ein orthodoxer Katholik) zu schaffen. Er beschäftigte sich mit früher polnischer Musik und vertonte zahlreiche geistliche Texte für Chor. In diese Zeit der Neuorientierung fällt auch die Komposition seiner 3. Synmphonie. Die Konzentration auf Chormusik hatte eine Änderung seines Stils zu Folge: an die Stelle serieller Strukturen traten einfache harmonische Texturen und weit ausholende Melodiebögen.

In den achtziger und neunziger Jahren schließlich kamen weitere Elemente hinzu: Chopin, Beethoven und Szymanowski scheinen als Vorbilder durch und Farben und Rhythmen aus der polnischen Volksmusik kommen hinzu. Die starken Akzente, die schroffen farben und die unermüdlichen Ostinati sind ein direktes Echo der Tänza aus dem Tatragebirge, den melancholischen Bläsermelodien Schlesiens und dem Ungestüm der tschechischen Polka.
Vieles davon findet sich in seiner Kammermusik wieder, die bei Boosey & Hawkes erschienen. Etwa in den drei Streichquartetten für das Kronos-Quartett – zu einem vierten ist es nicht mehr gekommen – in denen Górecki seine Technik der Reduktion zu Extremen führt. Anders als etwa Arvo Pärt oder John Taverner, mit denen er zuweilen verglichen wird, scheut seine Musik nicht die extremen Dissonanzen und „hässliche“ Töne. Etwa in den roh und beinahe „barbarisch“ anmutenden Mittelsätzen des 2. Streichquartetts oder dem mit grimmiger Lustigkeit aufspielendem „Kleinem Requiem für eine Polka“. Für Amateure dürfte vor allem das 3. Streichquartett mit seiner reduzierten Tonsprache einen guten Einstieg in Góreckis Klangwelt darstellen.

Schlicht und geradezu intim sind die beiden Violinstücke „Little Fantasia“ und „For Jasiunia“, von denen das letztgenannte sogar von Geigenanfängern zu bewältigen ist. Wagemutige Schlagzeugensembles dürfen sich mit einem Tubisten verbünden und anhand der „Aria“ nachspüren, wie wohl eine Oper von Górecki klingen würde, die er nie geschrieben hat. Und für Flötisten dürfte das für norwegische Flötistin Anne-Lill Ree komponierte „For You, Anne Lill“ von Interesse sein, in dem die gesanglichen Qualitäten der Flöte auf eine Basis von „Glockentönen“ im Klavier gestellt werden.


Kammermusik von Henryk Górecki
For You, Anne-Lill (1986) | Flöte und Klavier | Boosey & Hawkes ISMN M-060-09434-7
Aria | Tuba, Piano, Tam-Tam und große Trommel | Boosey & Hawkes ISMN M-060-09433-0
For Jasunia (2003) | Violine und Klavier | Boosey & Hawkes ISMN 979-0-060-11964-4
Little Fantasia | Violine und Klavier | Boosey & Hawkes ISMN 0-60-10817-4
Already It Is Dusk (1988) | Streichquartett Nr. 1 | Boosey & Hawkes HPS 1192
Quasi Una Fantasia (1990-1991) | Streichquartett Nr. 2 | Boosey & Hawkes HPS 1256
... Songs Are Sung (2005) | Streichquartett Nr. 3 | Boosey & Hawkes HPS 1408