„Ich war ein Wunderkind; denn ich konnte schon mit sechs Jahren und einem Finger ‚Hänschen klein‘ auf dem Klavier spielen. Fürwahr erstaunlich! [...] Plötzlich fing ich an, ernstlich Musik zu studieren und vier Stunden täglich Klavier zu üben. So war es kein Wunder, dass ich schon bald ‚Hänschen klein‘ völlig fehlerfrei mit zwei Fingern spielen konnte! Mein größter Erfolg aber war ‚Die Schlacht bei Leipzig‘! Sie ging so: ich setzte mich mit aller Kraft und dem Hinterteil auf die verschiedensten Stellen der Klaviatur, wodurch ich den Donner der Geschütze und die Einschläge der Granaten treffend demonstrierte!"
Aus Heinz Erhardts unvollendeter Autobiografie „Ich war eine frühentwickelte Spätausgabe“
Musikalienhändler hätte er werden sollen – das war eine abgemachte Sache zwischen Paul Neldner, der im lettischen Riga eine bedeutsame Musikalienhandlung betrieb und seinem etwas missratenen Enkel Heinz Erhardt, der soeben sein Abitur geschmissen hatte und ziellos durch die Straßen seiner Heimatstadt trieb. Um das Geschäft des Musikalienhändlers von Grund auf zu lernen, wurde Heinz von seinem Großvater nach Leipzig in die Lehre geschickt. Statt die großväterliche Apanage ausschließlich für seine Lehre zu verwenden, besuchte der junge Erhardt Vorlesungen am Leipziger Konservatorium, um Klavier und Komposition zu studieren – und probierte auch sein komödiantisches Talent als Stegreifkomiker auf so genannten „Bunten Abenden“ im Leipziger Studentenviertel aus. Die Lehre im ersten Musikhaus am Platze betrieb er eher nebenbei, brachte sie jedoch zu einem erfolgreichen Abschluss. Nach zwei Jahren kehrte er nach Riga zurück und wurde offiziell im Musikhaus Neldner angestellt.
In seiner unvollendeten Autobiografie lässt Heinz Erhardt anklingen, wie unwohl er sich in diesem Beruf fühlte: „Im großväterlichen Musikgeschäft befand ich mich inmitten hehrster Kunst - dachte ich! In Wirklichkeit ist es völlig wurst, ob man mit Käse handelt oder mit Musik: Immer kauft man billig ein, um teurer zu verkaufen. Als ich diese meine rein persönliche Meinung in aller Öffentlichkeit preisgab, verhüllte mein von hanseatischem Kaufmannsgeist erfüllter Großvater sein Haupt...“ Mit der Zeit wuchs Erhardts Sicherheit, als Schauspieler – als Komiker – auf die Bühne zu gehören. Ersten Engagements in Riga folgten weitere in Berlin und schließlich der Durchbruch im deutschen Nachkriegsfilm. Die Musik geriet dabei in den Hintergrund und als sein Sohn Gero lange nach dem Tod des berühmten Vaters die berühmte „Kiste auf dem Dachboden“ öffnete, muss er nicht wenig überrascht gewesen sein, ein ganzes Bündel voller Partituren darin zu finde. Sogar eine Oper hatte der Vater komponiert…
Auch wenn die Musik in Erhardts späterem Leben nur noch eine bescheidene Rolle spielte: In den zwanziger Jahren war es ihm ernst damit – und ein angehender Musikalienhändler aus Leipzig hatte sicherlich die besten Voraussetzungen, neue und neueste Werke aus ganz Europa kennenzulernen. Die Einflüsse Strawinskys und Prokofieffs, Regers und Busonis sind klar zu erkennen. Und es wäre schon verwunderlich, wenn sich Erhardt nicht bereits hier als augenzwinkernder Verdreher von Logik und Erwartung zu erkennen gäbe. Blättert man in der nun in einem kleinen Verlag erschienenen Erstausgabe des Erhardt’schen Klavierwerk, so blickt einen gleich auf der ersten Seite der „Walzer eines Wahnsinnigen in d-moll“ mit treuherzigem Augenaufschlag an. Folgt man der Spielanweisung „Es ist sehr gut, wenn man jeden Takt in verschiedener Geschwindigkeit und Tonstärke spielt, um das Wahnsinnige zu betonen“, so wird aus dem harmlos und verwirrt klingenden Stück eine monströse Beschleunigungsfantasie, die ihren Witz aus dem Gegensatz zwischen banalem Material und pseudovirtuosem Geklingel zieht.
Entstanden ist dieser Walzer eines Wahnsinnigen im Mai 1925: dem Jahr, in dem der französische Exzentriker Erik Satie starb, Dada und Expressionismus, Maschinenmusik und Charleston unerhörte neue Klänge in die Nachkriegskultur brachten. Umgeben von diesen Einflüssen entwickelte der junge Heinz Erhardt eine private Ästhetik zwischen absurdem Musiktheater und amerikanischer Tanzmusik. Es ist die Musik eines hochbegabten Amateurs von weitläufigem Interesse, der sich stets in den sicheren Bahnen der Tonalität bewegt und etwa in Sachen Kontrapunkt und Stimmführung keine Experimente wagt. Während der allergrößte Teil dieser Musik nur noch anekdotischen Wert besitzt, könnten der skurile „Flohmarsch“ und der an Erwin Schulhoff erinnernde Foxtrott „Riga“ auch heute noch sehen lassen. Vielleicht begegnet man ihnen gelegentlich einmal im Konzertsaal wieder.
Die im Musiktotal-Verlag erschiene Auswahl aus Heinz Erhardts musikalischem Schaffen ist ordentlich gemacht, weist aber einige ärgerliche Flüchtigkeitsfehler auf – einige Präludien scheinen ebenso zu fehlen wie Verweise auf seine Theatermusiken. Und das Vorzeichen versehentlich über die Noten gedruckt wurden, wäre früher jedem Notendruckergesellen aufgefallen. Hier scheint entweder wenig Erfahrung mit klassischem Notensatz oder wenig Zeit für eine Korrekturphase im Spiel gewesen zu sein. Ärgerliche Flecken auf einer ansonsten empfehlenswerten Ausgabe!
Heinz Erhardt
… mal klassisch
Klavierkompositionen von 1925 – 1929
Verlag Musiktotal
ISBN13: 9783938967492
EUR 19,95
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