Ennio
Morricone, italienischer Avantgarde-Komponist und Filmmusiker
Der 1965 in Westerland auf Sylt geborene Dirk-Michael Kirsch gehört zu den Komponisten, die im „großen Feuilleton“ nur selten vorkommen. Das sagt viel aus über den Zustand des deutschen Feuilletons und über den Zustand unserer Musikwahrnehmung. Für die großen Musikkritiker des 19. und auch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es eine selbstverständliche Pflicht, alle musikalischen Entwicklungen ihrer Zeit chronistisch zu begleiten. Der durch seine Dauerfehde mit Richard Wagner berühmt gewordene Eduard Hanslick hat einige seiner klügsten Texte über Musik geschrieben, die heute beinahe vergessen ist – man lese nur seinen Aufsatz über Victor Nesslers „Trompeter von Säckingen“.
Heutzutage
scheint eine der wichtigsten Forderung an einen Komponisten zu sein, die
musikalische Entwicklung „voranzubringen“, „Neues zu wagen“ und den
gesellschaftlichen Diskurs zu befeuern. Wer sich dazu nicht berufen fühlt, der
kann immer noch eine Position als Klassenclown des Betriebs wie zum Beispiel
Mauricio Kagel oder Moritz Eggert wählen – und sich damit nach wie vor einen
Zugang zu den Fördertöpfen der Radiosender und Festivals sichern. Den Typus des
Nur-Komponisten, wie ihn etwa Hans Werner Henze oder Wolfgang Rihm verkörpern,
gibt es unter den jüngeren Musikern freilich nur noch selten. Der Normalfall
sind heute Musiker wie Jörg Widman, Oli Mustonen oder Moritz Eggert, die auch
als Interpreten, Veranstalter eigener Konzertreihen oder Lehrer tätig sind.
Auch
Dirk-Michael Kirsch gehört zu dieser Gruppe. Der Oboist und Englischhornist
spielte im Philharmonischen Orchester Augsburg, bei den Münchener Sinfonikern
und im Münchener Kammerorchester, im Residenzorchester München, unterrichtet an
einem Musikgymnasium und gehört mit als Mitglied des „Bell-Arte-Ensemble
München“, dem Duo H2O oder dem Ensemble Bergerette sowie den von ihm selbst
gegründeten „Trio LuDiAl“ zu den Protagonisten der Münchener Neue-Musik-Szene.
Als
Komponist gilt seine Liebe neben Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams vor
allem den großen französischen Komponisten der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts: Claude Debussy, Maurice Ravel und vor allem Francis Poulenc. An
ihre Musik versucht er anzuknüpfen und „auf einer Basis des dem Ohr bereits
Vertrauten weiter zu gehen, neue Klangräume zu erschließen“. Dabei verwendet er
gelegentlich auch Techniken der Minimal Music, seine Musik ist sehr assoziativ
und versteht sich neben formalen und rein kompositorischen Aspekten vor allem
auch als Begleitung und Wegbereiter zu inneren Bildern oder Seelenzuständen.
„Klänge werden zu Landschaften. Der Hörer muss beim ersten Hören auf eine ganz
persönliche ‚Reise‘ mitgenommen werden, deren Ziel er allein bestimmen darf, um
am Ende neugierig auf eine weitere Begegnung mit vielleicht noch ‚unerhörten‘
Klängen zu werden.“
Auf
eine solche Reise geht auch, wer sich der „Hommage á Poulenc“ neugierig nähert.
Die erlesene Kombination von Oboe d’amore und Klavier geht hier eine farbige
Melange ein. Poulenc, der abgefeimte und sinnenlustige Meister des
französischen Neoklassizismus, wird hier zum Paten einer sonnendurchfluteten
Musik, bei der man Lavendelfelder im Wind wogen sieht und die Gischt
bretonischer Strandpromenaden auf der Haut spürt.
Schon
die allerersten Takte, in denen das Thema dieser gut siebenminütigen
Komposition vorgestellt wird, hat Phantasie und Esprit:
Im
21. Jahrhundert eine solche Musik zu schreiben und sie dabei nicht ironisch zu
verfremden, erfordert mehr Mut als alle Versuche, „verfremdete“, „entfremdete“
oder „verstörende“ Zustände oder Fragmente „zur Diskussion zu stellen“.
Unwillkürlich
fühlt man sich an Susan Sontag erinnert, die 1964 (ein Jahr nach Poulencs) Tod
über die Kultur des „Camp“ sinnierte. „Camp sieht alles in Anführungsstrichen“,
schrieb sie damals und zeigte, dass Camp weit mehr umfasst als Kitsch oder
minderwertige Kunst, die das Glück hat, Intellektuelle zu amüsieren. Dabei
genügt es nicht, sich lediglich eines Stils zu bedienen, der als überholt,
lächerlich oder misslungen gelten kann. Es muss schon eine gewisse Theatralik,
Leidenschaftlichkeit und Verspieltheit hinzukommen, damit es „Camp“ wird. Wie
kann man eine solche Passage auch anders deuten als liebevoll-ironisch?
Ironie ist
ebenfalls ein wichtiges Element von „Camp“, sofern sie sich auf sentimentale
und liebevolle Weise erweist. Niemals darf sie die verwendeten Techniken und
Kunstgriffe banalisieren oder gar der Lächerlichkeit preisgeben. Oder anders
gesagt: „Wenn man nicht ernst spielt, macht es auch keinen Spaß.“ (Loriot)
Ist Kirsch
„Hommage á Poulenc“ nun also „Camp“? Immerhin war der illustre Franzose selbst
ein besonders schillernder Vertreter dieser Kunstgattung: ein schwuler
jüdischer Atheist, der ab seinem vierzigsten Lebensjahr hinreißende katholische
Kirchenmusik schreibt und dabei bedenkenlos impressionistische Klänge mit
Vaudeville-Musik und Gregorianik verbindet. Einem echten Künstler kann es
schließlich gleich sein, was die Masse der Kritiker von seiner Kunst denkt.
Vielleicht ist
„camp“ ein altmodischer Begriff für ein Phänomen, das längst von unserem Alltag
Besitz ergriffen hat. Die Historisierung und Neuentdeckung vergangener
Popkultur, die Retro-Welle in den großen Städten – all das ist „Camp“. Wir
nennen es nur nicht mehr so, weil uns die Aktualität der Ereignisse den Blick
für die größeren Zusammenhänge versperrt. In diesem Sinne ist die Musik von
Dirk-Michael Kirsch sogar moderner und zeitgenössischer als viele andere
Kompositionen, die als „Neue Musik“ gehandelt werden.
Dirk-Michael Kirsch
Hommage
à Poulenc
Oboe
d’amore (Sopransaxophon) und Klavier
Accolade
Musikverlag ACC. 1365
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen