Dienstag, 23. November 2010

Plädoyer für Carl Reinecke

„Nein, lieber Reinecke. Man muß sich immer die höchsten Aufgaben stellen, wenn man nicht die höchste Stufe erstrebt, wird man auch die nächst hohe nicht erklimmen; ich selber habe mich früher viel zu sehr in kleiner Münze ausgegeben.“ 
Robert Schumann



2010 – ein Jahr der Jubiläen geht zu Ende: Friedemann Bach und Pergolesi (300 Jahre), natürlich Schumann und Chopin (200 Jahre) und sogar Gustav Mahler, dessen 150. Geburtstag freilich verhältnismäßig unbemerkt geblieben ist, weil alle Welt sich natürlich auf den 100. Todestag 2011 vorbereitet. Aber Carl Reinecke? Warum wird ein Musiker auch noch zwei Jahrhunderte nach seinem Tod gefeiert, während ein anderer in Vergessenheit gerät?

Carl Heinrich Carsten Reinecke wurde am 23. Juni 1824 in Altona geboren, das damals noch nicht zu Hamburg gehörte, sondern durch den dänischen König verwaltet wurde.  Er war das jüngere von zwei Kindern eines Musiklehrers aus Hamburg, der sich aus ärmlichen Verhältnissen emporgearbeitet hatte. Seine Mutter starb an Tuberkulose  als die Kinder vier und fünf Jahre alt waren; von nun an kümmerte sich der Vater allein um Carl und seine Schwester Elisabeth. Der frühe Tod seiner Frau scheint in Johann Peter Reinecke eine Depression ausgelöst zu haben. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Carl Reinecke den Vater später als strengen und düsteren Charakter, der sich jedoch bemühte, seinen Kindern so viel Wärme und familiäre Geborgenheit zu geben, wie es ihm möglich war. Er spielte oft mit seinen Kindern, unternahm ausgedehnte Sonntagsspaziergänge mit ihnen und erzählte ihnen abends Märchen und Geschichten.


Eine idyllische, unbeschwerte Kindheit war es dennoch nicht. Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass Johann Reinecke anscheinend den Verlust seiner Frau durch eine übergroße Bindung an seine Kinder kompensieren wollte. Anstatt sie in eine öffentliche Schule zu geben, zog er es vor, ihnen Privatunterricht zu geben. Neben Schreiben, Lesen und Rechnen stand auch Musikunterricht auf dem Stundenplan. Elisabeth Reinecke erinnert sich sowohl an den Ehrgeiz ihres Vaters als auch die seelischen Nöte, welche die Geschwister durchmachen mussten: „Sein Lehreifer streifte hart an Fanatismus, ihm war am wohlsten, wenn er lehren konnte. [...] Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß wir schwere, traurige Stunden bei dem reizbaren Vater durchzumachen hatten. Ich vermuthe, daß er, gerade weil seine Kinder so leicht folgten, übertriebene Ansprüche an uns machte. Wie manches mal sagte er zu Carl: ‚Willst Du nicht lieber Sackträger werden?‘, wenn ihm eine Arbeit nicht genügte. Wie oft haben wir schwierige Partituren, aus denen wir vom Blatte spielen mußten, versteckt, wenn die väterliche Stirn umwölkt erschien [...].“


Eine Erziehung mit verheerenden Folgen. Das Kind flüchtet sich in eskapistische Fantasien. Aus Angst vor dem Vater nach dem Reissen einer Klaviersaite sei er als Kind einmal in einen Tagtraum verfallen, in dem er nach eigenen Worten „die ganze wunderbare Zauberwelt geschaut“. Und weiter heißt es: „[...] die Erinnerung daran hat mich mein Leben lang nicht verlassen.“ Möglicherweise liegt darin einer der Gründe, warum Reinecke so oft in kindliche Vorstellungswelten hinab tauchte, wenn er als Erwachsener mit Problemen konfrontiert wurde. Die Märchenwelt als sichere Zuflucht vor väterlichem Zwang und Gehorsamsdruck. Diese früherworbene „Lebensangst“ scheint ihm tatsächlich sein ganzes Leben hindurch zu schaffen gemacht haben.


In seinen Lebenserinnerungen schreibt Reinecke: „Als Greis im Schmucke dichten Silberhaares, da ich selbst schon Vater war, gestand er mir mit Tränen in den Augen, daß er in unserer Erziehung manchen Fehler begangen habe, und in einem Punkte muß ich ihm noch heute Recht geben, durch seine Strenge und seine Gepflogenheit, meinen Willen zu brechen, auf daß ich seinen eigenen Willen als den allein gültigen anerkenne, hat er mich für mein ganzes Leben zu einer allzu weichen nachgiebigen Natur gemacht. Energie habe ich oft nur mir selbst gegenüber bewiesen, gegen Andere war ich oft zu meinem Schaden zu schwach.“


Moderne Klangeffekte und subtil ausgehöre Harmonik

Vielleicht ist das einer der Gründe für seinen mangelnden musikalischen Erfolg im Nachleben. Neben Genies der Selbstvermarktung wie Franz Liszt oder Richard Wagner konnte und wollte sich der bescheidene „Onkel Reinecke“ wohl nicht behaupten. Und dies trotz aller äußeren Erfolge: 35 Jahre lang stand er an der Spitze des Leipziger Gewandhausorchesters – länger als jeder andere Dirigent vor und nach ihm. Als Konzertpianist war er in ganz Europa gefragt. Und zu seinen Schülern zählen Komponisten wie Edvard Grieg, Max Bruch, Arthur Sullivan, Frederick Delius, Sigfrid Karg-Elert oder der „Vater der Musikwissenschaft“ Hugo Riemann. Doch Carl Reinecke war ein gebildeter, umgänglicher und zutiefst bescheidener Zeitgenosse, der seine leidenschaftlichen Gefühle und seelischen Abgründe nur in seiner Musik auszudrücken wagte.  Und anderes als dem depressiven Robert Schumann stand ihm auch keine „Neue Zeitschrift für Musik“ zur Verfügung, die seinen Namen als Musikschriftsteller bekannt machte und keine Ehefrau, die als gefeierte Virtuosin seine Klavierwerke in der Welt bekannt machte. Schließlich zählte er auch nicht zu den verhaltensauffälligen Komponisten, so wie Johannes Brahms oder der Altersgenosse Anton Bruckner, die auch durch ihre „Macken“ bekannt geworden sind.  Nein – zur öffentlichen Figur, zum „Star“ taugte Reinecke wohl nicht. Und dies nimmt die Nachwelt übel. Musikgeschichte lebt nun einmal auch von Geschichten.
Wer durch den Katalog seiner Werke blättert (deren überwiegender Teil nur noch antiquarisch oder gar nicht mehr zu erhalten ist), stößt auf ein gutes Dutzend Kinderopern und Märchenspiele, Klaviermusik und Streichquartette, Symphonien und Konzerte – die ganze Agenda eines romantischen Komponisten, der bis ins biblische Alter von 86 Jahren noch produktiv gewesen ist. 

Wie viel seine berühmten Schüler ihrem Lehrer verdanken, erhellt beispielsweise ein Blick auf Reineckes meisterlich instrumentierte Orchesterwerke, etwa die Ballade für Flöte und Orchester (Opus 288) oder die viel gespielten Konzerte für Harfe (Opus 182) und Flöte (Opus 283). Reineckes Gespür für Klangwirkungen erinnert an Mendelssohn, geht jedoch mit seiner Einbeziehung moderner Klangeffekte und subtil ausgehörten Harmonik weit über ihn hinaus. Es dürfte in der deutschen Romantik bis Gustav Mahler keinen Komponisten gegeben haben, der so großartig orchestriert hat wie Carl Reinecke.
Warum das bezaubernde Harfenkonzert (mit seinen „keltisch“ angehauchten Motiven und einem der vermutlich schönsten langsamen Sätze der Konzertlitertur) oder die Ballade op. 288 sich noch nicht längst einen Dauerplatz in den Abonnement-Konzerte oder auf den Programmlisten der Klassikradios erobert haben, erscheint unbegreiflich. Dass die Klaviermusik und die vier Klavierkonzerte des exzellenten Pianisten Reinecke – dessen Spiel auf Welte-Mignon-Zylindern überliefert ist – ebenfalls eine Entdeckung sind, sei hier nur am Rande erwähnt.

Reinecke und der englische Stil

In jüngster Zeit scheint das Interesse am Komponisten Carl Reinecke wieder aufzuflammen; davon zeugen nicht nur CD-Einspielungen der Kammermusik mit dem Flötisten Emmanuel Pahud oder dem Klarinettisten Paul Meyer. In Leipzig etwa hat Reineckes Ur-Urenkel Stefan Schönknecht den von Reineckes Söhnen Franz und Carl gegründeten Musikverlag wieder belebt, um der wachsenden Nachfrage nach Neuausgaben gerecht zu werden.   


Auch die renommierte Wiener Urtext Edition hat Reinecke in jüngster Zeit gleich drei Neuerscheinungen gewidmet: die programmatische Flötensonate „Undine“ (auch in der Fassung für Klarinette) und die „Drei Sonaten für Violoncello und Klavier“. Allesamt prachtvolle Urtext-Ausgaben versehen mit  einem ausgiebigen Vorwort, Kritischem Bericht und das Ergebnis sorgfältiger Quellenforschung.  
Und während „Undine“ seit beinahe einem Jahrhundert zu den meistgespielten Stücken des romantischen Flötenrepertoires gehört – aber erst jetzt in einer modernen Ausgabe zu haben ist – hat man mit  den Cellosonaten einen kleinen Schatz gehoben. In diesen drei Sonaten erweist sich Reinecke als eigenständiger und origineller Komponist, dessen Stil man mit Formulierungen wir „wenn Grieg Brahms gewesen wäre“ oder „elegant wie Mendelssohn, tiefgründig wie Schumann“ nur unzureichend beikommt. Ganz gleich ob in der kecken und von romantischem Entdeckergeist geprägten a-moll-Sonate (1857 in einem äußerst mittelmäßigen Druck erschienen), der an russische Ballettmusik erinnernden D-Dur-Sonate (zuletzt 1866 zum Preis von 1 Thaler und 15 Neuen Groschen erhältlich) oder der grüblerischen „Dritten“ in g-moll, die 1898 veröffentlicht, schon zu seinem Spätwerk gehört – Reinecke hat einen ganz eigenen Tonfall, den man nach einiger Zeit sofort heraushört. Er ist ein ausgesprochener Melodiker, ohne seine Einfälle (wie es kleinere Talente getan hätten), allzu sehr in den Vordergrund zu stellen. In seiner Technik, melodische Einfälle immer wieder mit neuen Harmonien zu brechen und in unterschiedlichem Licht erstrahlen zu lassen, erinnert er an englische Komponisten wie Edward Elgar, Gerald Finzi oder sein Schüler Frederick Delius. Oder zeigt sich hier vielleicht Reineckes Einfluss? Der als typisch englisch empfundene Stil weist viele Einflüsse der „Leipziger Schule“ auf – vielleicht muss in diesem Zusammenhang zukünftig nicht nur an Mendelssohn sondern auch an Reinecke gedacht werden?
Die „historische Aufführungspraxis“ hat in den vergangenen Jahrzehnten viele vergessene Komponisten wieder in unser kulturelles Gedächtnis geholt – selbst Heinrich Schütz musste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Entdeckerfreude auch in das 19. Jahrhundert zu tragen, wo noch viele Schätze zu heben sind. Die Musik von Carl Reinecke in allen ihren Facetten gehört jedenfalls unbedingt dazu.

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