Dienstag, 29. Mai 2012

Feengarten und Pagoden: leichte Klaviermusik von Maurice Ravel

Die Klaviermusik von Maurice Ravel zählt auch heute noch zum Schwersten, was das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Für die Komposition seines „Gaspard de la nuit“ studierte Ravel angeblich die berüchtigten „Etudes d’exécution transcendante“ von Franz Liszt, um zu überprüfen, ob seine eigene Musik auch wirklich virtuos genug sei. Ganz gleich, ob „Valses nobles et sentimentales“ oder „Tombeau de Couperin“ – hinter das Geheimnis dieser Musik kommt man nur, wenn man bereit ist viele Wochen und Monate Übefleiß zu investieren. Dabei gibt es durchaus Klaviermusik von Ravel, die zum Besten gehört, was der Meister aus Montfort geschrieben hat – und für die man kein studierter Pianist sein muss, um sie zu spielen. Die Rede ist von seiner bezauberenden Märchenmusik „Ma Mere l’Oye“.

Kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat die Sprache der Märchen und die Welt der Kinder so gut verstanden wie der 1875 im baskischen Ciboure geborene Ravel, dessen Todestag sich im Dezember zum fünfundsiebzigsten Mal jährt. Der kleingewachsene Mann mit den expressionistischen Gesichtszügen und dem eleganten Auftreten hat Kinder über alles geliebt. Vielleicht weil sie noch kleiner waren als er, der er zeitlebens mit seiner Körperlichkeit haderte und unter ihr litt. Mit einer Körpergröße von 1,58m befand er sich mit ihnen buchstäblich auf Augenhöhe. Und er liebte es, sein eigenes Vergnügen an Märchen, kunstvollem Spielzeug und fantastischen Figuren hinter dem Spiel mit jüngeren Kameraden zu verbergen.

Für die Kinder seiner Freunde Ida und Cyprien Godebski wurde Ravel eine Art Patenonkel. Als ihre Eltern im Sommer 1908 für einige Wochen Urlaub in Spanien machten, kümmerte er sich um die damals neun und zwölf Jahre alten Geschwister Mimie und Jean – unterstützt von ihrer englischen Gouvernante und der Köchin des Hauses. Mimie erinnert sich an die Zeit mit dem weltberühmten Komponisten, der für sie schlicht ihr „Lieblingsonkel“ war, der mit ihnen spielte, ihnen zuhörte und sich fantasievolle Spiele für sie ausdachte

Beide Kinder spielten gut Klavier und eines Tages überraschte sie Ravel mit einer kleinen Komposition für Klavier zu vier Händen, der „Pavane de la Belle au bois dormant“. Weitere Stücke hätten in den folgenden Wochen hinzukommen sollen, doch der Tod seines Vaters stürzte Ravel in eine tiefe Depression. Erst zwei Jahre später, am 10. April 1910, teilte Ravel seinem Freund Cyprien Godebski mit, dass der fertige Notentext einer kleinen Klaviersuite mit dem Titel „Ma Mere l’Oye“ an den Kopisten abgeschickt worden sei und die Uraufführung durch zwei junge Mädchen am 20. April stattfinden solle:  Ravel hatte eigentlich Mimie und Jean als Interpreten der Uraufführung im Sinn gehabt, doch „die Idee erfüllte mich mit kaltem Grausen“, wie sich Mimie später erinnerte. „Mein Bruder, der weniger schüchtern und ein talentierter Klavierspieler war, schlug sich recht gut. Doch ich war trotz Unterricht bei Ravel vor Angst oft so starr, dass wir den Gedanken aufgeben mussten.“   

Die Märchenerzählungen der „Mutter Gans“ oder – wie der Originaltitel lautet: „Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités: contes de ma Mère l’Oye“ von Charles Perrault genießen in Frankreich denselben Stellenwert wie in Deutschland die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Obwohl Perraults 1607 veröffentlichte Sammlung der Suite zu ihrem Titel verholfen hat, übernahm Ravel nur zwei Märchen aus Perraults Sammlung:  die Geschichten vom Dornröschen und vom Kleinen Däumling, der nicht nach Hause findet, weil die Vögel seine Wegmarkierung verspeisen. Eine weitere Märchengestalt findet er bei Marie-Catherine Baronne d'Aulnoy, einer Zeitgenossin Perraults: die Kaiserin Laideronette, die badet, während die Zwergenwesen der Pagoden dazu auf Nussschalen musizieren. Bei Jeanne-Marie Leprince de Beaumont entnimmt Ravel die anrührende Geschichte von der „Schönen und dem Tier“ und lässt „Ma Mère l’Oye“ mit einem selbst erdachten „Feengarten“ (Le jardin feerique) feierlich ausklingen.
Ravel taucht die Märchen in eine bizarre Klangwelt von überirdischer Schönheit. Mit vielen leeren Quarten, Quinten und Oktaven und modalen Melodien, die fast mittelalterlich anmuten und gelegentlichen lautmalerischen Elementen, wie den Stimmen der Vögel, die durch die Brotkrumen des Däumlings angelockt werden. Jeder Takt dieses kleinen Meisterwerks verströmt jenen seltsamen Märchenton, der gläserne Brücken der Phantasie baut zwischen dem Leben und dem Traum, in dem raffinierte Kunstfertigkeit mit naiver Einfachheit eine berührende Verbindung eingehen. Hans Christian Andersen hat diesen Tonfall in seinen Märchen getroffen und Ravel hat vielmals in seiner Musik gefunden.
Der im September 1908 komponierten und im äolischen Kirchenton gehaltenen Pavane der „schlafenden Schönen“ folgt der „Däumling“, dessen Sextakkorde an den Fauxbourdon des 15. Jahrunderts erinnern und das mit seinen raffinierten Taktwechseln und –verschiebungen die Verlorenheit des Däumlings so plastisch illustriert.

„Laideronette ist eine Kaiserin und verkündet Tatsachen mit Autorität“. Eine „Kaiserin der Pagoden“, deren Bild mithilfe zahlreicher schwarzer Tasten heraufbeschworen wird und in dem eine ganzes Gamelanorchester mit seinen Gongs und Klangschalen zu erklingen scheint.

Im vierten Stück hört man die Gespräche zwischen der Schönen und dem Tier, das sich später als verzauberter Prinz entpuppen wird. Hier scheint Ravel den „Gymnopedies“ seines Freundes Erik Satie Respekt zu zollen. Das Stück ist ein langsamer Walzer, in dessen Bassstimme das bedrohliche Knurren des Tieres mit der lieblichen Melodie der Schönen kontrastiert, bis sich das Thema mit einem Glissando in seine helle und freundliche Urgestalt zurückverwandelt.

Mit dem „Jardin feerique“ schließt die kleine Suite. Ravel kombiniert die Töne der C-Dur-Skala zu einem feierlichen Finale, das mit einer melancholischen Apotheose endet. Es scheint, als blicke der erwachsene Ravel noch einmal selbst durch einen Zauberspiegel in jene Zeit zurück, in der er noch selbst an einen „Feengarten“ glauben konnte.   

 „Ma Mere l’Oye“ eine seltene Ausnahme in Ravels Klavieroeuvre: während sich Stücke wie „Miroirs“, „Tombeau de Couperin“ oder gar „Gaspard de la nuit“ nahe an der Unspielbarkeitsgrenze bewegen, lassen sich diese kleinen Märchenstücke sogar von Kindern bewältigen. Wer etwa Bachs zweistimmigen Inventionen oder die eine der Gymnopedien von Satie gemeistert hat, dem dürften die fünf Stücke keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Das gilt sogar für den eindrucksvollen Auftritt der Kaiserin Laideronette, dessen Primo-Part nur unwesentlich schwerer als de berüchtigte „Flohwalzer“ ist, jedoch tausend Mal eindrucksvoller klingt.

Auf dem Weg zur Klaviermusik von Maurice Ravels stellt „Ma Mere l’Oye“ das perfekte Eingangsportal dar: die erlesenen und teilweise paradoxen Harmonien, die formalen Gags und wehmütigen Melodien, die Ravels Musik auszeichnen finden sich auch hier und wecken die Lust darauf, es vielleicht doch einmal mit den oder den Jeux d’Eau“ zu probieren „Miroirs“ oder es mit einem der Preludes und Menuets aus der bei Bärenreiter erschienenen Sammlung mit „Leichten Klavierstücke und Tänzen“ zu versuchen.

Leichte und mittelschwere Klaviermusik von Maurice Ravel

Ma Mere l’Oye
Suite für Klavier zu vier Händen
Herausgegeben von Roger Nichols
Edition Peters EP 71 002
EUR 15,80

Pavane pour une Infante défunte
Herausgegeben von Roger Nichols
Edition Peters EP 7371
EUR 11,80

Leichte Klavierstücke und Tänze
Herausgegeben von Michael Töpel
Bärenreiter Verlag BA 6580
EUR 10,-

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen