Sonntag, 28. November 2010

Das Klavier meines Großvaters

Mein Großvater war Architekt. Sein Handwerk hat er in den fünfziger Jahren gelernt, als es für junge Baumeister jede Menge zu tun gab. Er baute Schwimmbäder und Einfamilienhäuser, Wasserwerke und Brücken und erinnerte mit seiner kleinen und rundlichen Statur ein wenig an Heinz Erhardt. Sich selbst hatte er ein Haus gebaut, das mit seiner Wirtschaftswunderarchitektur ganz gut selbst eine Rolle in einem Heinz-Erhardt-Film hätte spielen können. Hinter dem Haus lag ein großer Garten, in dem ein Kirschbaum stand und in dem Himbeeren und Stachelbeeren wuchsen. Zwischen den Erdbeerbeeten suchten wir im Frühjahr nach Ostereiern und unter die beiden größten Bäume hatte mein Großvater eine Blockhütte gebaut, die aussah wie ein Indianerzelt.

Vom Garten aus führte ein schmaler Weg zur Terrasse, auf der – von einer gestreiften Markise vor Regen geschützt – ein Tisch und ein paar Stühle standen. Bestimmt waren sie aus Plastik. Es waren die siebziger Jahre. Terrasse und Wohnzimmer waren durch eine Glasfront voneinander getrennt und ich erinnere mich noch daran, wie schwer es mir als Kind fiel, die ebenfalls gläserne Schiebetür zu öffnen.

Es stand an der schmalen Seite des Wohnzimmers, gleich neben dem Durchgang zur Diele. Mein erstes Klavier. Das heißt, eigentlich war es das Klavier meines Großvaters. Der war nicht nur ein Architekt, sondern auch ein ganz brauchbarer Hobbypianist. Vielleicht hat ihn diese Fähigkeit dabei geholfen, seine Frau zu finden, denn im Elternhaus meiner Großmutter wurde ebenfalls fleißig musiziert. Meine Urgroßmutter hatte Konzertpianistin werden wollen, doch für die Tochter eines Gymnasialdirektors aus der westfälischen Provinz schickte sich eine solche Laufbahn wohl nicht. Im Krieg war sie Rotkreuzschwester in Norwegen – im selben Lazarett, in dem auch mein Großvater wegen seines kleinen Fingers behandelt wurde, der ihm von einer Panzerluke eingequetscht worden war. Es blieb seine einzige Kriegsverletzung.

Meine Urgroßmutter, damals Mitte vierzig, und der junge Wehrmachtssoldat kamen ins Gespräch. Dass der junge Mann aus der gleichen Gegend stammte wie sie selbst, hatte die die resolute Oberschwester bereits seinem Wehrmachtspass entnommen. Mein Großvater hatte Sorge, nach dieser Verletzung nie wieder Klavier spielen zu können. „Sie spielen also Klavier“, stellte meine Urgroßmutter fest. Man vereinbarte, sich zu besuchen, „wenn alles vorbei ist“. Ob sie dabei wohl an ihre beiden unverheirateten Töchter dachte? Männer waren ein seltenes Gut in jener Zeit.

Zwei Jahre später war alles vorbei und der junge Soldat klopfte an die Tür des kleinen Reihenhauses in Ostwestfalen, lernte die Töchter des Hauses kennen, entschied sich für die jüngere, nahm sein Studium auf und kaufte ein Klavier. Schimmel, Nußbaum/Birne, nicht besonders groß, aber mit einem sehr schönen Klang. Das Instrument hat ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Es stand in der Studentenbude in Dortmund, im Wohnzimmer des Hauses mit dem schönen Garten, in seinem Kölner Büro und später – nachdem seine Firma krachend in die Pleite geschlittert war, in dem Schlafzimmer seiner Zweizimmerwohnung. Als er starb, erbte mein Onkel das Instrument und verkaufte es.

Irgendwie war es auch mein Klavier. Als ich drei oder vier Jahre alt war und kaum groß genug, um über die Tasten zu schauen, tat ich das, was alle Kleinkinder zur Freude ihrer Eltern und Anverwandten tun: ich machte mir die geheimnisvolle Klangerzeugungsmaschine „haptisch und akustisch erfahrbar“ und  bemühte mich, entweder mit einem Finger immer wieder denselben Ton zu spielen und darauf zu achten, ob sich der Ton verändern würde, wenn man die Fingerspitze immer wieder mit raubvogelartiger Bösartigkeit auf das schwarz oder weißlackierte Elfenbein hinabstoßen ließe. Oder ich versuchte, mit einer Hand (oder gar mit beiden Händen), möglichst viele Tasten auf einmal niederzudrücken, weil ich den dadurch entstanden Klang als unheimlich und „außerirdisch“ empfand.

Auch mit dem Pedal experimentierte ich. Bei dem Versuch, im Stehen mit beiden Händen Cluster zu formen und dabei gleichzeitig eines oder beide Pedale mit den Füßen herunterzudrücken, bin ich meistens auf meinem Hintern gelandet. Ich war gerade mal vier Jahre alt, da hat man‘s noch nicht so mit dem Gleichgewicht. Melodien zu spielen kam mir freilich noch nicht in den Sinn, diese Neugier wurde erst Jahre später geweckt. Die geheimnisvollen Klänge der Avantgarde hatten jedoch schon damals ihre Wirkung nicht verfehlt und ein paar Jahre später begann ich ernsthaft damit, Klavier zu spielen.

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