Sonntag, 28. November 2010

Das Klavier meines Großvaters

Mein Großvater war Architekt. Sein Handwerk hat er in den fünfziger Jahren gelernt, als es für junge Baumeister jede Menge zu tun gab. Er baute Schwimmbäder und Einfamilienhäuser, Wasserwerke und Brücken und erinnerte mit seiner kleinen und rundlichen Statur ein wenig an Heinz Erhardt. Sich selbst hatte er ein Haus gebaut, das mit seiner Wirtschaftswunderarchitektur ganz gut selbst eine Rolle in einem Heinz-Erhardt-Film hätte spielen können. Hinter dem Haus lag ein großer Garten, in dem ein Kirschbaum stand und in dem Himbeeren und Stachelbeeren wuchsen. Zwischen den Erdbeerbeeten suchten wir im Frühjahr nach Ostereiern und unter die beiden größten Bäume hatte mein Großvater eine Blockhütte gebaut, die aussah wie ein Indianerzelt.

Vom Garten aus führte ein schmaler Weg zur Terrasse, auf der – von einer gestreiften Markise vor Regen geschützt – ein Tisch und ein paar Stühle standen. Bestimmt waren sie aus Plastik. Es waren die siebziger Jahre. Terrasse und Wohnzimmer waren durch eine Glasfront voneinander getrennt und ich erinnere mich noch daran, wie schwer es mir als Kind fiel, die ebenfalls gläserne Schiebetür zu öffnen.

Es stand an der schmalen Seite des Wohnzimmers, gleich neben dem Durchgang zur Diele. Mein erstes Klavier. Das heißt, eigentlich war es das Klavier meines Großvaters. Der war nicht nur ein Architekt, sondern auch ein ganz brauchbarer Hobbypianist. Vielleicht hat ihn diese Fähigkeit dabei geholfen, seine Frau zu finden, denn im Elternhaus meiner Großmutter wurde ebenfalls fleißig musiziert. Meine Urgroßmutter hatte Konzertpianistin werden wollen, doch für die Tochter eines Gymnasialdirektors aus der westfälischen Provinz schickte sich eine solche Laufbahn wohl nicht. Im Krieg war sie Rotkreuzschwester in Norwegen – im selben Lazarett, in dem auch mein Großvater wegen seines kleinen Fingers behandelt wurde, der ihm von einer Panzerluke eingequetscht worden war. Es blieb seine einzige Kriegsverletzung.

Meine Urgroßmutter, damals Mitte vierzig, und der junge Wehrmachtssoldat kamen ins Gespräch. Dass der junge Mann aus der gleichen Gegend stammte wie sie selbst, hatte die die resolute Oberschwester bereits seinem Wehrmachtspass entnommen. Mein Großvater hatte Sorge, nach dieser Verletzung nie wieder Klavier spielen zu können. „Sie spielen also Klavier“, stellte meine Urgroßmutter fest. Man vereinbarte, sich zu besuchen, „wenn alles vorbei ist“. Ob sie dabei wohl an ihre beiden unverheirateten Töchter dachte? Männer waren ein seltenes Gut in jener Zeit.

Zwei Jahre später war alles vorbei und der junge Soldat klopfte an die Tür des kleinen Reihenhauses in Ostwestfalen, lernte die Töchter des Hauses kennen, entschied sich für die jüngere, nahm sein Studium auf und kaufte ein Klavier. Schimmel, Nußbaum/Birne, nicht besonders groß, aber mit einem sehr schönen Klang. Das Instrument hat ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Es stand in der Studentenbude in Dortmund, im Wohnzimmer des Hauses mit dem schönen Garten, in seinem Kölner Büro und später – nachdem seine Firma krachend in die Pleite geschlittert war, in dem Schlafzimmer seiner Zweizimmerwohnung. Als er starb, erbte mein Onkel das Instrument und verkaufte es.

Irgendwie war es auch mein Klavier. Als ich drei oder vier Jahre alt war und kaum groß genug, um über die Tasten zu schauen, tat ich das, was alle Kleinkinder zur Freude ihrer Eltern und Anverwandten tun: ich machte mir die geheimnisvolle Klangerzeugungsmaschine „haptisch und akustisch erfahrbar“ und  bemühte mich, entweder mit einem Finger immer wieder denselben Ton zu spielen und darauf zu achten, ob sich der Ton verändern würde, wenn man die Fingerspitze immer wieder mit raubvogelartiger Bösartigkeit auf das schwarz oder weißlackierte Elfenbein hinabstoßen ließe. Oder ich versuchte, mit einer Hand (oder gar mit beiden Händen), möglichst viele Tasten auf einmal niederzudrücken, weil ich den dadurch entstanden Klang als unheimlich und „außerirdisch“ empfand.

Auch mit dem Pedal experimentierte ich. Bei dem Versuch, im Stehen mit beiden Händen Cluster zu formen und dabei gleichzeitig eines oder beide Pedale mit den Füßen herunterzudrücken, bin ich meistens auf meinem Hintern gelandet. Ich war gerade mal vier Jahre alt, da hat man‘s noch nicht so mit dem Gleichgewicht. Melodien zu spielen kam mir freilich noch nicht in den Sinn, diese Neugier wurde erst Jahre später geweckt. Die geheimnisvollen Klänge der Avantgarde hatten jedoch schon damals ihre Wirkung nicht verfehlt und ein paar Jahre später begann ich ernsthaft damit, Klavier zu spielen.

Dienstag, 23. November 2010

Plädoyer für Carl Reinecke

„Nein, lieber Reinecke. Man muß sich immer die höchsten Aufgaben stellen, wenn man nicht die höchste Stufe erstrebt, wird man auch die nächst hohe nicht erklimmen; ich selber habe mich früher viel zu sehr in kleiner Münze ausgegeben.“ 
Robert Schumann



2010 – ein Jahr der Jubiläen geht zu Ende: Friedemann Bach und Pergolesi (300 Jahre), natürlich Schumann und Chopin (200 Jahre) und sogar Gustav Mahler, dessen 150. Geburtstag freilich verhältnismäßig unbemerkt geblieben ist, weil alle Welt sich natürlich auf den 100. Todestag 2011 vorbereitet. Aber Carl Reinecke? Warum wird ein Musiker auch noch zwei Jahrhunderte nach seinem Tod gefeiert, während ein anderer in Vergessenheit gerät?

Carl Heinrich Carsten Reinecke wurde am 23. Juni 1824 in Altona geboren, das damals noch nicht zu Hamburg gehörte, sondern durch den dänischen König verwaltet wurde.  Er war das jüngere von zwei Kindern eines Musiklehrers aus Hamburg, der sich aus ärmlichen Verhältnissen emporgearbeitet hatte. Seine Mutter starb an Tuberkulose  als die Kinder vier und fünf Jahre alt waren; von nun an kümmerte sich der Vater allein um Carl und seine Schwester Elisabeth. Der frühe Tod seiner Frau scheint in Johann Peter Reinecke eine Depression ausgelöst zu haben. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Carl Reinecke den Vater später als strengen und düsteren Charakter, der sich jedoch bemühte, seinen Kindern so viel Wärme und familiäre Geborgenheit zu geben, wie es ihm möglich war. Er spielte oft mit seinen Kindern, unternahm ausgedehnte Sonntagsspaziergänge mit ihnen und erzählte ihnen abends Märchen und Geschichten.


Eine idyllische, unbeschwerte Kindheit war es dennoch nicht. Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass Johann Reinecke anscheinend den Verlust seiner Frau durch eine übergroße Bindung an seine Kinder kompensieren wollte. Anstatt sie in eine öffentliche Schule zu geben, zog er es vor, ihnen Privatunterricht zu geben. Neben Schreiben, Lesen und Rechnen stand auch Musikunterricht auf dem Stundenplan. Elisabeth Reinecke erinnert sich sowohl an den Ehrgeiz ihres Vaters als auch die seelischen Nöte, welche die Geschwister durchmachen mussten: „Sein Lehreifer streifte hart an Fanatismus, ihm war am wohlsten, wenn er lehren konnte. [...] Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß wir schwere, traurige Stunden bei dem reizbaren Vater durchzumachen hatten. Ich vermuthe, daß er, gerade weil seine Kinder so leicht folgten, übertriebene Ansprüche an uns machte. Wie manches mal sagte er zu Carl: ‚Willst Du nicht lieber Sackträger werden?‘, wenn ihm eine Arbeit nicht genügte. Wie oft haben wir schwierige Partituren, aus denen wir vom Blatte spielen mußten, versteckt, wenn die väterliche Stirn umwölkt erschien [...].“


Eine Erziehung mit verheerenden Folgen. Das Kind flüchtet sich in eskapistische Fantasien. Aus Angst vor dem Vater nach dem Reissen einer Klaviersaite sei er als Kind einmal in einen Tagtraum verfallen, in dem er nach eigenen Worten „die ganze wunderbare Zauberwelt geschaut“. Und weiter heißt es: „[...] die Erinnerung daran hat mich mein Leben lang nicht verlassen.“ Möglicherweise liegt darin einer der Gründe, warum Reinecke so oft in kindliche Vorstellungswelten hinab tauchte, wenn er als Erwachsener mit Problemen konfrontiert wurde. Die Märchenwelt als sichere Zuflucht vor väterlichem Zwang und Gehorsamsdruck. Diese früherworbene „Lebensangst“ scheint ihm tatsächlich sein ganzes Leben hindurch zu schaffen gemacht haben.


In seinen Lebenserinnerungen schreibt Reinecke: „Als Greis im Schmucke dichten Silberhaares, da ich selbst schon Vater war, gestand er mir mit Tränen in den Augen, daß er in unserer Erziehung manchen Fehler begangen habe, und in einem Punkte muß ich ihm noch heute Recht geben, durch seine Strenge und seine Gepflogenheit, meinen Willen zu brechen, auf daß ich seinen eigenen Willen als den allein gültigen anerkenne, hat er mich für mein ganzes Leben zu einer allzu weichen nachgiebigen Natur gemacht. Energie habe ich oft nur mir selbst gegenüber bewiesen, gegen Andere war ich oft zu meinem Schaden zu schwach.“


Moderne Klangeffekte und subtil ausgehöre Harmonik

Vielleicht ist das einer der Gründe für seinen mangelnden musikalischen Erfolg im Nachleben. Neben Genies der Selbstvermarktung wie Franz Liszt oder Richard Wagner konnte und wollte sich der bescheidene „Onkel Reinecke“ wohl nicht behaupten. Und dies trotz aller äußeren Erfolge: 35 Jahre lang stand er an der Spitze des Leipziger Gewandhausorchesters – länger als jeder andere Dirigent vor und nach ihm. Als Konzertpianist war er in ganz Europa gefragt. Und zu seinen Schülern zählen Komponisten wie Edvard Grieg, Max Bruch, Arthur Sullivan, Frederick Delius, Sigfrid Karg-Elert oder der „Vater der Musikwissenschaft“ Hugo Riemann. Doch Carl Reinecke war ein gebildeter, umgänglicher und zutiefst bescheidener Zeitgenosse, der seine leidenschaftlichen Gefühle und seelischen Abgründe nur in seiner Musik auszudrücken wagte.  Und anderes als dem depressiven Robert Schumann stand ihm auch keine „Neue Zeitschrift für Musik“ zur Verfügung, die seinen Namen als Musikschriftsteller bekannt machte und keine Ehefrau, die als gefeierte Virtuosin seine Klavierwerke in der Welt bekannt machte. Schließlich zählte er auch nicht zu den verhaltensauffälligen Komponisten, so wie Johannes Brahms oder der Altersgenosse Anton Bruckner, die auch durch ihre „Macken“ bekannt geworden sind.  Nein – zur öffentlichen Figur, zum „Star“ taugte Reinecke wohl nicht. Und dies nimmt die Nachwelt übel. Musikgeschichte lebt nun einmal auch von Geschichten.
Wer durch den Katalog seiner Werke blättert (deren überwiegender Teil nur noch antiquarisch oder gar nicht mehr zu erhalten ist), stößt auf ein gutes Dutzend Kinderopern und Märchenspiele, Klaviermusik und Streichquartette, Symphonien und Konzerte – die ganze Agenda eines romantischen Komponisten, der bis ins biblische Alter von 86 Jahren noch produktiv gewesen ist. 

Wie viel seine berühmten Schüler ihrem Lehrer verdanken, erhellt beispielsweise ein Blick auf Reineckes meisterlich instrumentierte Orchesterwerke, etwa die Ballade für Flöte und Orchester (Opus 288) oder die viel gespielten Konzerte für Harfe (Opus 182) und Flöte (Opus 283). Reineckes Gespür für Klangwirkungen erinnert an Mendelssohn, geht jedoch mit seiner Einbeziehung moderner Klangeffekte und subtil ausgehörten Harmonik weit über ihn hinaus. Es dürfte in der deutschen Romantik bis Gustav Mahler keinen Komponisten gegeben haben, der so großartig orchestriert hat wie Carl Reinecke.
Warum das bezaubernde Harfenkonzert (mit seinen „keltisch“ angehauchten Motiven und einem der vermutlich schönsten langsamen Sätze der Konzertlitertur) oder die Ballade op. 288 sich noch nicht längst einen Dauerplatz in den Abonnement-Konzerte oder auf den Programmlisten der Klassikradios erobert haben, erscheint unbegreiflich. Dass die Klaviermusik und die vier Klavierkonzerte des exzellenten Pianisten Reinecke – dessen Spiel auf Welte-Mignon-Zylindern überliefert ist – ebenfalls eine Entdeckung sind, sei hier nur am Rande erwähnt.

Reinecke und der englische Stil

In jüngster Zeit scheint das Interesse am Komponisten Carl Reinecke wieder aufzuflammen; davon zeugen nicht nur CD-Einspielungen der Kammermusik mit dem Flötisten Emmanuel Pahud oder dem Klarinettisten Paul Meyer. In Leipzig etwa hat Reineckes Ur-Urenkel Stefan Schönknecht den von Reineckes Söhnen Franz und Carl gegründeten Musikverlag wieder belebt, um der wachsenden Nachfrage nach Neuausgaben gerecht zu werden.   


Auch die renommierte Wiener Urtext Edition hat Reinecke in jüngster Zeit gleich drei Neuerscheinungen gewidmet: die programmatische Flötensonate „Undine“ (auch in der Fassung für Klarinette) und die „Drei Sonaten für Violoncello und Klavier“. Allesamt prachtvolle Urtext-Ausgaben versehen mit  einem ausgiebigen Vorwort, Kritischem Bericht und das Ergebnis sorgfältiger Quellenforschung.  
Und während „Undine“ seit beinahe einem Jahrhundert zu den meistgespielten Stücken des romantischen Flötenrepertoires gehört – aber erst jetzt in einer modernen Ausgabe zu haben ist – hat man mit  den Cellosonaten einen kleinen Schatz gehoben. In diesen drei Sonaten erweist sich Reinecke als eigenständiger und origineller Komponist, dessen Stil man mit Formulierungen wir „wenn Grieg Brahms gewesen wäre“ oder „elegant wie Mendelssohn, tiefgründig wie Schumann“ nur unzureichend beikommt. Ganz gleich ob in der kecken und von romantischem Entdeckergeist geprägten a-moll-Sonate (1857 in einem äußerst mittelmäßigen Druck erschienen), der an russische Ballettmusik erinnernden D-Dur-Sonate (zuletzt 1866 zum Preis von 1 Thaler und 15 Neuen Groschen erhältlich) oder der grüblerischen „Dritten“ in g-moll, die 1898 veröffentlicht, schon zu seinem Spätwerk gehört – Reinecke hat einen ganz eigenen Tonfall, den man nach einiger Zeit sofort heraushört. Er ist ein ausgesprochener Melodiker, ohne seine Einfälle (wie es kleinere Talente getan hätten), allzu sehr in den Vordergrund zu stellen. In seiner Technik, melodische Einfälle immer wieder mit neuen Harmonien zu brechen und in unterschiedlichem Licht erstrahlen zu lassen, erinnert er an englische Komponisten wie Edward Elgar, Gerald Finzi oder sein Schüler Frederick Delius. Oder zeigt sich hier vielleicht Reineckes Einfluss? Der als typisch englisch empfundene Stil weist viele Einflüsse der „Leipziger Schule“ auf – vielleicht muss in diesem Zusammenhang zukünftig nicht nur an Mendelssohn sondern auch an Reinecke gedacht werden?
Die „historische Aufführungspraxis“ hat in den vergangenen Jahrzehnten viele vergessene Komponisten wieder in unser kulturelles Gedächtnis geholt – selbst Heinrich Schütz musste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Entdeckerfreude auch in das 19. Jahrhundert zu tragen, wo noch viele Schätze zu heben sind. Die Musik von Carl Reinecke in allen ihren Facetten gehört jedenfalls unbedingt dazu.

Sonntag, 21. November 2010

Nostalgische Erinnerungen

Ich habe ein paar CDs aussortiert und dabei ein Hörspiel entdeckt, für das ich vor acht Jahren die Musik geschrieben habe (meine natürliche Bescheidenheit verbietet es mir zu erwähnen, dass ich für diese Arbeit mit einem kleinen Preis ausgezeichnet wurde...). "Das indische Tuch" von Marc Gruppe nach der Romanvorlage von Edgar Wallace. Es war nicht meine erste Hörspielarbeit - aber die erste, in der ich so arbeiten konnte, wie ich es wollte: ein tolles Buch, wunderbare Sprecher und ein hochtalentierter, witziger und verständnisvoller Regisseur.

Die Hörspielseite Hoernews.de hat seinerzeit eine Produktionstagebuch veröffentlicht, das Marc und ich geschrieben haben und das bemerkenswerterweise immer noch online ist. Ein kleiner Teil der Musik findet sich hier

Mittwoch, 17. November 2010

Die Templer haben immer ihre Finger im Spiel

Die Île aux Juifs in Paris. Es ist der frühe Abend des 18. März 1304. Schon am Morgen hat der "Monsieur de Paris" mit seinen Gehilfen zwei Scheiterhaufen errichtet. Aus Sorge vor Ausschreitungen haben die Soldaten des Königs den Platz abgesperrt, denn die zum Tode durch das Feuer Verurteilten genießen in der Bevölkerung einen heldenhaften Ruf: der Präzeptor von Fresnes Geoffroy de Charney und Jacques de Molay,  der letzte Großmeister des Templerordens. Ein halbes Jahr zuvor hatten die Schergen des französischen Königs Philipp IV. in einer einzigen Nacht sämtliche Templer des Landes verhaften lassen. Das symbolträchtige Datum: der 13. Oktober 1307 - ein Freitag, der seitdem als Unglückstag gilt. Der französische König Philipp, so heißt es, sieht der Verbrennung vom Fenster seines Palastes aus zu und zieht sich zurück, als der Geruch des verbrannten Fleisches sich über die Seine hinaus zu seinem Sitz ausbreitet. Kurze Zeit später wird ihm zugetragen, was Jacques de Molay in seiner Todesstunde prophezeite: Der König und der Papst werden binnen Jahresfrist vor den göttlichen Richterstuhl treten.

Und so geschieht es. Noch innerhalb des Jahres stirbt sowohl Philipp, wie auch der Papst. Der Orden jedoch, dessen 200- jährige Geschichte damit in der bisherigen Dimension beendet ist, wird weiter wirken und die Spuren reichen bis in die heutige Zeit.
Das ist der Beginn einer abenteuerlichen Geschichte. Die Templer hatten nicht nur die christlichen Pilgerwege nach Jerusalem gesichert und das moderne Bankwesen erfunden (unter anderem den Reisescheck), sie brillierten vor allem auf dem Feld der Informationsverarbeitung. Es dürfte im 13. Jahrhundert keine europäische Macht gegeben haben, die über ein so dichtes Netz von Informanten verfügte. Eine gefährliche Macht vor allem für die traditionellen Herren der Welt: die Könige von Frankreich und Spanien, den Papst und die boomenden Stadtstaaten des Mittelmeers.
Und sie waren reich. Geraedzu unanständig reich für einen kirchlichen Orden, dessen Mitglieder immerhin ein persönliches Armutsgelübde abgelegt hatten. Ein Reichtum, der zu mancherlei Unvorsicht verleitete. Als der verhasste Philipp IV.  von seinem eigenen Volk gestürzt werden sollte, waren es die Templer, die ihm in ihrer mächtigen Zitadelle Zuflucht boten. Die sichtbare Pracht verfehlte ihre Wirkung nicht - besonders die bis an die Decke gefüllten Schatzkammern dürften den hoch verschuldeten König auf interessante Gedanken gebracht haben. Und nach der Auflösung des Templerordens bestanden die königlichen Silbermünzen tatsächlich wieder aus Silber...
Einige Templer entkamen der Mordaktion und flüchteten nach Schottland, wo sie "im Untergrund" weiter ihren Zielen nachgingen. Und die betrafen vor allem eines: Rache. Noch im selben Jahr, in dem Jacques de Molay verbrannt wurde, starb auch Philipp IV. bei einem als  Jagdunfall getarnten Attentat der mit den Templern verbündeten Assasinen, von deren arabischen Namen sich auch unsere Bezeichnung "Haschisch" herleitet. Und als 1793 der letzte französische König, Ludwig XVI., unter der Guillotine hingerichtet wurde, sprang ein junger Templer auf das Schaffott und rief in die Menge: "Jacques de Molay, du bist gerächt!" Mission accomplished...  
Den Rest der Geschichte kennen wir aus Film, Funk und Fernsehen. Freimaurer, Illuminaten, Templer und Rosenkreuzer teilen die Weltherrschaft untereinander auf und gründen 1776 sogar die USA. Nicht nur der Dollarschein steckt voller offensichtlicher Freimaurersymbolik - auch das von einem französischen Freimaurer angelegte Straßennetz der Hauptstadt folgt geheimen Mustern. So bilden die vom Capitol ausgehenden Straßen die Schenkel eines Zirkels; ein rechter Winkel verbindet Weißes Haus und Capitol. Da fehlt nicht mehr viel zum Pentagramm.
Viele der Gründerväter gehörten der Freimaurerloge "Alexandria" an: etwa Präsident George Washington, sein Nachfolger Thomas Jefferson oder Benjamin Franklin, der das strategische Amt des stellvertretenden Postministers versah - und sich natürlich nicht nur um die korrekte Briefzustellung kümmerte. Informationstechnologie gehörte schließlich immer schon zum Rüstzeug jedes ordentlichen Templers. Und mehr noch: seit 1776 leisteten fast alle amerikanischen Präsidenten ihren Amtseid auf die Logenbibel der „St. John's Lodge No. 1“. Ausnahmen: John F. Kennedy und George W. Bush.
Auch in Berlin hat die "Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem" ihre Spuren hinterlassen: in Tempelhof (natürlich). Dort, auf dem Hohen Teltow, steht noch immer die in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts errichtete Dorfkirche Marienfelde. Zusammen mit dem von Magister Hermannus de Templo (sic!) angelegten "Komturhof" bildet sie eine der Keimzellen des heutigen Berlin. Der Komturhof ist heute weitgehend verschwunden - nicht jedoch ein anderer "Hof". Am 11, Juni 2009 wurde ein Brandanschlag auf eine Niederlassung des Logistik-Unternehmens DHL verübt; die Niederlassung befindet sich nur einen Steinwurf entfernt von der ehemaligen Ordensburg der Tempelritter. Viele der vertrauten rot-gelben Transporter, die täglich durch Berlin fahren und ihre Fracht ausliefern, sind dort stationiert. Die wenigsten Berliner werden dabei darauf geachtet haben, welcher Name auf den Nummernschildern der in Tempelhof stationierten Fahrzeuge zu lesen ist...
... zum Beispiel hier...





...hier,





...hier...






 oder hier.


Donnerstag, 11. November 2010

Ich geh mit meiner Laterne

Heute ist Sankt Martin. In meiner rheinischen Heimat ist dieser Tag gleich gleich doppelt bedeutsam. Erstens, weil am 11.11. um 11 Uhr 11 die "Session" beginnt - also der offizielle Beginn der Karnevalszeit, die nur kurz von Weihnachten und Neujahr unterbrochen wird, um dann am Aschermittwoch zu enden. Zweitens aber - und daran erinnere ich mich besonders gerne  - weil überall auf den Dörfern und in den Städten Kinder und Erwachsene mit bunten Laternen hinter einem als römischer Legionär gewandeten Reitersmann zu einem wunderschön anzusehenden Martinsfeuer ziehen. Als Kind war es mein Liebstes, nicht nur meine im Kindergarten gebastelte Laterne zu präsentieren, sondern anschließend mit einigen Kameraden durch die Straßen meines Dorfes zu ziehen und von den Anwohnern Süßigkeiten zu erbetteln. Inzwischen ist dieser Brauch wohl verloren gegangen - auch weil die Spielzeug- und Karnevalsindustrie 1991 (als wegen des 1. Golfkriegs der Rosenmontag abgesagt wurde), nicht auf ihren Masken und Scherzartikeln sitzenbleiben wollte und kurzerhand das amerikanische Halloweenfest nach Deutschland importierte. Bin ich eigentlich reaktionär, wenn mich das immer noch ärgert? Oder werde ich bloß alt...?

Viel später - da war ich schon über dreißig - habe ich gemeinsam mit Semjon Nehrkorn für die Berliner Sing-Akademie ein kleines Singspiel zu Sankt Martin geschrieben. In diesem Jahr wird es bereits zum fünften Mal aufgeführt, immer im prächtigen Berliner Dom und immer gesungen von den Knaben des Staats- und Domchores unter ihrem "Chef" Kai-Uwe Jirka. 2007 haben wir eine kleine Aufnahme gemacht. Vielleicht genau das Richtige, um etwas Licht in trübe Novembertage zu bringen?

Mittwoch, 10. November 2010

Auf dem Tempelhofer Feld

Der November macht eine kleine Pause und lässt es zu, dass man ohne Handschuhe und Schal ins Freie gehen kann. Ich war ein wenig spazieren, auf dem Gelände des ehemaligen Tempelhofer Flughafens. Das Areal ist so groß, wie das Dorf, in dem ich einen Teil meiner Kindheit verbracht habe und wie groß, merkt man erst, wenn man mitten auf der Landebahn steht. Von dort hat man einen fantastischen Blick auf die Stadt. Von Süden, wo die Studios der Berliner Union Film ("Hitparade im Z-D-Ffff...!") stehen, riecht es kilometerweit nach Butterkeksen, Bahlsen sei Dank. Im Norden und Nordwesten der langgestreckte Terminal, der aus der Ferne betrachtet, gar nicht so nazimäßig einschüchternd aussieht, sondern beinahe filigran. Im Vergleich mit Hauptbahnhof oder O2-Arena wirkt er sogar beinahe gemütlich. In der weiter östlich gelegenen Moschee war neulich ein Tag der offenen Tür und wenn man in dieser Richtung weitergeht, gelangt man irgendwann nach Kreuzberg. Zwei Stunden kann man da schon verbringen, bevor man wieder am Ausgangspunkt angelangt ist.

Auf meinem Rückweg durch den Schillerkiez bemerke ich, wie viele kleine Läden und Ateliers in den letzten Monaten eingerichtet worden sein müssen. Den üppig verzierten Fassaden sieht man an, dass die Schillerpromenade vor hundert Jahren ein Viertel für wohlhabende Bürger gewesen ist, auch wenn der Straßenzug heute als "Problemviertel" gilt. Doch die "gentrification" schreitet mit gewaltigen Schritten voran: die ehemalige preußische Ingenieurschule liefert das charakteristische Bühnenbild für ein neues Biedermeier, das sich in studentischen Cafés und Atelierwohnungen manifestiert. Der neuköllner Norden wird bürgerlich...

Setzen Sie sich schon mal ans Klavier, ich komme gleich...