Der
erste Eindruck ist schlicht: ein kleines Heft im Quadratformat mit vielen weiße
Seiten, in deren Mitte oft nur ein einziges Notensystem mit drei oder vier Tönen
gezeichnet ist. Dazwischen zwölf ZEN-inspirierte Zeichnungen und verstreute
kleine Weisheiten „Man kann nicht auf Vorrat atmen“
oder „Suche die Musik nicht. Sie ist da und wartet. Lasse sie einfach zu und
spiele sie.“ Ich hatte mehr „Spielfutter“ erwartet, originelle
Gedankengänge und ausgefuchste Kompositionen – und damit natürlich das Anliegen
dieses Heftes vollkommen verkannt. Schließlich soll ich ja nicht einfach ein
paar neue Stücke von Francis Schneider spielen, sondern in mir selbst eine
Musik finden. Und dazu können die „51 Modelle“ gar nicht schlicht genug sein.
Manchmal bestehen sie auf den ersten (flüchtigen) Blick nur aus einem einzigen
Ton, der in drei unterschiedlichen Oktaven notiert ist. Erst die darüber
liegende Legende und die Konzentration des Spielers macht aus der Skizze ein
vollständiges Stück, mit dem sich lange Zeit beschäftigen kann.
Ich mache mir einen Tee, schließe die Tür zum
Klavierzimmer und versenke mich in Modell Nummer 46 – „Der Schneeleopard“. „Die Geschichte erzählt von einem
der letzten Schneeleoparden in den Bergen des Kaukasus. Die Menschen dringen
immer mehr in sein Revier ein und jagen ihn gnadenlos, seines
kostbaren Felles wegen.“ Ein
eintaktiges Pattern der linken Hand in f-moll bildet den Grundstock dieser
Übung. Es könnte ein Mantra sein, das unablässig wiederholt wird und das mit seinen
charakteristischen Synkopen eine „musikalische Unwucht“ ausbildet, von der die
zu improvisierende Melodie der rechten Hand nicht unbeeinflusst. Ich probiere
es zunächst mit einer Folge von Achteln und Sechzehnteln, versuche die
metrischen Verschiebungen der Linken auszugleichen und mit gegenläufigen
Bewegungen „aufzufüllen“.
Das
Ergebnis ist ein hektisches Durcheinander. Erst als ich meinen musikalischen Ehrgeiz
aufgebe und zu halben und ganzen Noten übergehe, entfaltet sich ein Bild: Ich
sehe den Kaukasus, denke an die Erzählungen von Tschingis Aitmatov und nehme
die von Francis Schneider sorgsam drapierten weiteren Hinweise wahr: „In unserer Musik wagt sich der
Schneeleopard manchmal etwas aus seinem Versteck hervor, zieht sich dann aber
sofort wieder zurück. Drücke dies dadurch aus, dass du das Motiv der linken
Hand auch einmal nach As-Dur (für das Hervorwagen) und nach Es-Dur (für das
Zurückziehen) transponierst.“ Am Ende habe ich eine halbe Stunde mit einem
einzigen Takt zugebracht und doch das Gefühl, eine lange Reise getan zu haben.
Fast nichts – und doch so
viel
Meditatives
Improvisieren am Klavier
51
Modelle
Mit
CD
Breitkopf
& Härtel MN 903
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