Donnerstag, 24. Mai 2012

Fast nichts – und doch so viel | Meditatives Improvisieren am Klavier

Der erste Eindruck ist schlicht: ein kleines Heft im Quadratformat mit vielen weiße Seiten, in deren Mitte oft nur ein einziges Notensystem mit drei oder vier Tönen gezeichnet ist. Dazwischen zwölf ZEN-inspirierte Zeichnungen und verstreute kleine Weisheiten „Man kann nicht auf Vorrat atmen“ oder „Suche die Musik nicht. Sie ist da und wartet. Lasse sie einfach zu und spiele sie.“  Ich hatte mehr „Spielfutter“ erwartet, originelle Gedankengänge und ausgefuchste Kompositionen – und damit natürlich das Anliegen dieses Heftes vollkommen verkannt. Schließlich soll ich ja nicht einfach ein paar neue Stücke von Francis Schneider spielen, sondern in mir selbst eine Musik finden. Und dazu können die „51 Modelle“ gar nicht schlicht genug sein. Manchmal bestehen sie auf den ersten (flüchtigen) Blick nur aus einem einzigen Ton, der in drei unterschiedlichen Oktaven notiert ist. Erst die darüber liegende Legende und die Konzentration des Spielers macht aus der Skizze ein vollständiges Stück, mit dem sich lange Zeit beschäftigen kann.

Ich mache mir einen Tee, schließe die Tür zum Klavierzimmer und versenke mich in Modell Nummer 46 – „Der Schneeleopard“. „Die Geschichte erzählt von einem der letzten Schneeleoparden in den Bergen des Kaukasus. Die Menschen dringen immer mehr in sein Revier ein und jagen ihn gnadenlos, seines kostbaren Felles wegen.“ Ein eintaktiges Pattern der linken Hand in f-moll bildet den Grundstock dieser Übung. Es könnte ein Mantra sein, das unablässig wiederholt wird und das mit seinen charakteristischen Synkopen eine „musikalische Unwucht“ ausbildet, von der die zu improvisierende Melodie der rechten Hand nicht unbeeinflusst. Ich probiere es zunächst mit einer Folge von Achteln und Sechzehnteln, versuche die metrischen Verschiebungen der Linken auszugleichen und mit gegenläufigen Bewegungen „aufzufüllen“.

Das Ergebnis ist ein hektisches Durcheinander. Erst als ich meinen musikalischen Ehrgeiz aufgebe und zu halben und ganzen Noten übergehe, entfaltet sich ein Bild: Ich sehe den Kaukasus, denke an die Erzählungen von Tschingis Aitmatov und nehme die von Francis Schneider sorgsam drapierten weiteren Hinweise wahr: „In unserer Musik wagt sich der Schneeleopard manchmal etwas aus seinem Versteck hervor, zieht sich dann aber sofort wieder zurück. Drücke dies dadurch aus, dass du das Motiv der linken Hand auch einmal nach As-Dur (für das Hervorwagen) und nach Es-Dur (für das Zurückziehen) transponierst.“ Am Ende habe ich eine halbe Stunde mit einem einzigen Takt zugebracht und doch das Gefühl, eine lange Reise getan zu haben.



Fast nichts – und doch so viel
Meditatives Improvisieren am Klavier
51 Modelle
Mit CD
Breitkopf & Härtel MN 903

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