Louis Vierne, am 8.Oktober 1870 fast blind in Poitiers geboren und am 2. Juni 1937 in Paris gestorben, ist denjenigen, die seinen Namen kennen, als legendärer Organist, den meisten eben aber auch nur als Organist bekannt. Sechs Jahre nach dem Ende seines Studiums bei César Franck und Charles-Marie Widor wurde er in einem Wettbewerbsverfahren am 2. Mai 1900 zum Titularorganisten der Kathedrale Notre-Dame in Paris ernannt. An der großartigen Orgel von Aristide Cavaille-Coll, die der vielseitig begabte Interpret, Improvisator und Komponist bis zu seinem Tod spielte – er starb während seines 1750. Konzertes buchstäblich auf der Orgelbank – traf sich bald die künstlerische und intellektuelle Elite Europas.
Im Bereich der Orgelmusik gilt Vierne als großer Erneuerer, der die stilistischen Mittel der Moderne (vor allem des Impressionismus) furchtlos und genial auf sein Instrument übertrug und seinen Schülern – allen voran Olivier Messiaen und Maurice Duruflé – neue Wege wies.
Ein Bild, das auf seine Klaviermusik nur zum Teil zutrifft. Obwohl er sich – mit Ausnahme des Theaters – allen musikalischen Gattungen gewidmet hat und etliche Meisterwerke hinterlassen hat, blieb seine schöpferische Fantasie im Bezug auf das Klavier selbst in seinen harmonisch kühnsten Stücken dem Stil der Spätromantik verhaftet. Auch die beiden vom Stuttgarter Carus-Verlag vorgelegten Préludes „Suprème appel“ und „Tendresse“ zeigen vor allem Einflüsse aus dem Klavierwerk von Chopin, Tschaikowsky und Rachmaninow. Sie stammen aus einer Sammlung von zwölf Préludes op. 36, die im Jahr 1916 in zwei Bänden veröffentlicht wurden. Ulrich Stierle hat sich entschieden, nur zwei der Préludes („nach meiner Einschätzung die beiden besten Stücke“) zu veröffentlichen. Angesichts der Tatsache, dass die Klaviermusik des Komponisten andernorts bereits als Urtext-Gesamtausgabe vorliegt, eine weise verlegerische Entscheidung.
„Suprème appel“, das zweite Stück der ursprünglichen Sammlung, erinnert in seinem Gestus an hochromantische Kompositionen Chopins oder Rachmaninoffs. Es ist „Allegro, molto agitato“ zu spielen und beeindruckt durch seinen ungestümen orchestralen Vorwärtsdrang, der sich unter anderem in weit ausholenden Akkordbrechungen der rechten Hand zeigt. Von der Linken wird neben einer hohen Beweglichkeit auch die Fähigkeit zum gesanglichen Spiel gefordert und insgesamt erfordert das Stück ein Denken in „Klangfarben“, die den Organisten Vierne erahnen lassen.
Den perfekten Gegensatz dazu bietet „Tendresse“: eine von impressionistischen Harmonien durchtränkte Barcarole, die alle Register des Klaviers ausnutzt, um einen dichten und anmutigen Satz zu erzielen. Man denke sich dieses Stück wohl am besten auf einem historischen französischen Flügel, etwa von Pleyel oder Erard, damit die oft geforderten Töne in der Kontra-Oktave den filigranen Satz nicht erschlagen und die spieluhrmäßigen Figuren am entgegengesetzten Ende der Tastatur perlmuttfarben schimmern können.
Louis Vierne
Zwei Préludes für Klavier
Herausgegeben von Ulrich Stierle
Carus-Verlag Stuttgart CV 18.527
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