Mittwoch, 6. Juli 2011

Heinrich Sutermeister | Bergsommer




Heinrich Sutermeister | Bergsommer – Acht kleine Stücke für Klavier | Edition Schott ED 2881 | EUR 11,95

„Wie wir die Welt der Töne unserem Gegenwartsempfinden dienstlich machen wollen, das soll unser persönlichstes Anliegen bleiben. Aber auch hier gilt es, das Bildnis des Menschen musikalisch zu erwärmen und zu durchleuchten. Noch heute verfügen wir Komponisten über eine ungeheure Macht, die wir, zu getreuen Händen übernommen, beherrscht und weise auszuüben haben. Seien wir uns doch dieser Verantwortung bewusst und versuchen wir, die Verkrampfung in kurzsichtigen Machtpositionen und Gruppenbildungen, die das gegenwärtige Weltbild unheilvoll beherrschen, mit der Macht der Töne zu lockern und zu lösen.“

- Heinrich Sutermeister



Das ist eine Musik, die so recht aus der Zeit gefallen ist. Sie klingt ein wenig, als hätte ein deutscher Heimatfilmproduzent versehentlich einem Teilnehmer der Darmstädter Ferienkurse einen Kompositionsauftrag gegeben und der hätte sich auch redlich bemüht, die Anforderungen des Genres zu erfüllen – freilich ohne Erfolg.

Als dieses Klavieralbum 1940 erstmals erschien, lag Europa bereits im Krieg, rollten die ersten Züge in die Ghettos und Enrico Fermi legte in seinem Forschungslabor in Chicago die Grundlagen für den ersten Atombombenabwurf über Japan. Mit seinen idyllischen Schilderungen von „Bergbahn“ und „Abend auf der Alp“, von „Sennenball“ und „Geißenhirt“ wirkt diese Musik tatsächlich wie eine aus der Zeit gefallene Kostbarkeit. Eine Heimatmusik der subversiven Art, die munter Einflüsse der neuen Sachlichkeit mit naiver Postkartenromantik verbindet und auf unaufgeregte Weise ironisch wirkt. Oft muss man an Hindemith denken, etwa an dessen „Ouvertüre zum ‚Fliegenden Holländer‘ wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen spielt“. Manchmal scheinen tschechische Märchenfilmmusiken durchzuklingen. Und man wäre nicht überrascht, wenn mit einem Mal Conny Froboess, Peter Kraus und Heinz Erhardt durchs Bild liefen. Das passt dann schon.




Dienstag, 5. Juli 2011

Anton Ferdinand Titz | Sechs Streichquartette (1781)



Anton Ferdinand Titz
Sechs Streichquartette (1781)
Herausgegeben von Klaus Harer
Edition Gravis ED 1839-1 / EG 1839-2
EUR 29,80 je Band

Mit Anton Ferdinand Titz betritt ein weiteres Phantom der Musikgeschichte die kleine Bühne dieser Kolumne. Nur wenige biographische Daten aus dem Leben des russischen Hofvirtuosen sind durch Dokumente belegt. Geboren wurde er vermutlich um 1740 in Nürnberg, geigte im Orchester der Sebaldus-Kirche und verließ seine Heimatstadt, nachdem seine erste große Liebe auf wenig Widerhall traf. Um 1760 finden wir ihn in Wien, wo er alsbald die Bekanntschaft Christoph Willibald Glucks macht, dem der junge Musiker offensichtlich sympathisch ist und Titz in sein Opernorchester aufnimmt. Bei einer „musikalischen Akademie“ des Fürsten Lobkowitz wird der russische Staatsbeamte Pjotr Alexandrowitsch Sojmonow auf ihn aufmerksam und lud ihn nach Russland ein. 1771 ging Titz nach Sankt Petersburg.

Und dort besuchte ihn 1803 Louis Spohr. Geiger und Komponist wie Titz, allerdings jünger und smarter als der als „veraltert“ geltende Titz, der zu diesem Zeitpunkt schon den Ruf einer gewissen Eigenwilligkeit genoss. Da war Titz bereits tief in den Abgründen seiner manisch-depressiven Erkrankung versunken, versank oft wochenlang in Schweigen, fühlte sich von einem bösen Zauberer verfolgt, der ihm de Mittelfinger seiner linken Hand verhext habe, damit er nicht mehr geigen könne. Spohr hatte dafür nur ein spöttisches Lächeln übrig, wie für die als veraltet geltende Spielweise des Musikers. Doch über dessen Stellenwert als Komponisten ließ er keinen Zweifel aufkommen. „Ist nun Titz auch kein großer Geiger, noch weniger der größte aller Zeiten, wie seine Verehrer behaupten, so ist er doch unbezweifelt ein musikalisches Genie, wie seine Kompositionen hinlänglich beweisen“.

Eien Ansicht, die auch andere Musiker teilten: 1805 schrieb Korrespondent der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“: „Titz wohnt im Hause Teplows und genießt aller der Schonung und Sorgfalt, die jener unerklärliche Seelenzustand verlangt, und aller der Auszeichnung, die der im Adagio noch nicht übertroffene Künstler verdient.“

Die sechs hier vorgelegten Quartette sind vermutlich noch in Wien entstanden, wo sie 1781 auch (bei Artaria) erschienen sind. Titz erweist sich in Ihenn als Meister der musikalischen Form und spieltechnischer Finessen. Sprachlos macht den unvorbereiteten Hörer vor allem das unbändige d-moll-Quartett (Nr. 5), dessen zerrissener und tragischer Tonfall die Zeit von „Sturm und Drang“ bereits weit hinter sich lässt. Von besonderer Schönheit sind jedoch tatsächlich die „unübertroffenen“ Adagios: ganz gleich, ob in den Variationen des A-Dur-Quartetts (Nr. 2) oder den skurilen Launen des c-Moll-Quartetts (Nr. 3).

Die von Klaus Harer verantwortete Ausgabe bietet einen soliden Notentext auf der Basis neuester Erkenntnisse der Quellenforschung, ist sauber gesetzt und bietet problemlos spielbare Einzelstimmen mit guten Wendestellen und viel Platz für Bleistifteintragungen. Was will man also mehr?

Montag, 4. Juli 2011

Johann Sigismund Kusser, La cicala della cetra D’Eunomio



Johann Sigismund Kusser
La cicala della cetra D’Eunomio
Sechs Consortsuiten für 2 Oboen, Fagott, Streicher und B.c.
Herausgegeben von Michael Robertson
Edition Walhall EW 747
EUR 29,80

Der Trip nach Paris gehörte für jung deutsche Adelige des ausgehenden 17. Jahrhunderts zum festen Bestandteil ihrer Ausbildung, der „Grand Tour“. Sie stellte ursprünglich den Abschluss der Erziehung dar und sollte der Bildung des Reisenden den „letzten Schliff“ geben. Die jungen Männer suchten insbesondere bedeutende europäische Kunststädte auf reisten durch malerische Landschaften und sprachen an europäischen Fürstenhöfen vor. Dabei sollten sie Kultur und Sitten fremder Länder kennenlernen, neue Eindrücke sammeln und für das weitere Leben nützliche Kontakte knüpfen. Weiter diente die Tour der Vertiefung von Sprachkenntnissen sowie der Verfeinerung von Manieren, allgemein dem Erwerb von Weltläufigkeit, Status und Prestige. Gerade für adlige Reisende war es auch reizvoll, Lektionen französischer oder italienischer Fechtmeister in Anspruch zu nehmen oder sich mit fremden Tänzen vertraut zu machen. Besonders das höfische Zeremoniell Ludwigs XIV. und seines Kapellmeisters Lully war Gegenstand von Bewunderung und Nachahmung.

Dies hatte zur Folge, dass man – glücklich wieder heimgekehrt – auch von deutschen Hofmusikern verlangte, sich mit dem vor allem in Paris Gehörten vertraut zu machen, auf dass ein Hauch von Paris auch über die Tanzböden von Sigmaringen, Waldeck, Wittgenstein oder Berleburg wehe.

Auch in Ansbach, wo der 1660 in Pressburg geborene und in Paris ausgebildete Johann Sigismund Kusser die Hofkapelle befehligte, wurde aufwändig und langwierig geprobt, um den französischen Stil auch in Mittelfranken heimisch zu machen. Das ging nicht ohne Reibungsverluste ab, die „täglichen Exercitij“ in Sachen Bogenführung und Phrasierung gingen mindestens einem Musiker so sehr „gegen den Strich“, dass er um seine Entlassung bat.

Um welche Musik es sich dabei handelte, die unserem unbekannten Musiker so sehr missfiel, lässt sich anhand der schönen Neuausgabe der „Sechs Suiten“ in der Edition Walhall studiern, von denen nun die zweite erschienen ist. Der Einfluss Lullys ist unverkennbar: gravitätische Punktierungen in den langsamen Sätzen, fugierte Einsätze in den schnellen Passagen und das alles gehüllt in ein prächtiges und üppiges Gewand aus Klängen. Nur in harmonischer Hinsicht bricht bei Kusser – oder Jean Sigismond Cousser wie er sich nach seinem Frankreichaufenthalt nannte – immer wieder der Böhme durch. Bukolisches F-Dur, das an heiße Sommertage und endlose Weizenfelder erinnert und volksliedhafte Wendungen. Hier steht Cousser/Kusser ganz in mitteldeutscher Komponiertradition. Eine echte Entdeckung, für die man Herausgeber Michael Robertson dankbar sein darf.



Freitag, 1. Juli 2011

Isaak Ossipowitsch Dunajewski, Die Kinder des Kapitän Grant



Isaak Ossipowitsch Dunajewski
Die Kinder des Kapitän Grant (Ouvertüre)
Bearbeitung für Bläserquintett und KIavier von Vladimir Genin
Edition Sikorski ED 2412
EUR 26,-

„Die Kinder des Kapitän Grant“ ist ein fesselnder Abenteuerroman aus der Feder des großen französischen Romanciers Jules Verne. Die Geschichte von Lord Glenarvan und Lady Helena, von Major MacNabbs und den Kindern des Kapitän Grant, dem zwölfjährigen Robert Grant und der 16jährigen Mary Grant, lebt von schrecklichen Katastrophen, überraschenden Wendungen und wunderbaren Rettungen. Mit seinen stetig wechselnden Schauplätze und der Vielzahl der handelnden Figuren ist der Roman farbiger als manch anderer Roman Jules Vernes – dennoch ist er hierzulande verhältnismäßig unbekannt geblieben. In Russland hingegen kennt jedes Kind die Geschichte der geheimnisvollen Flaschenpost und der gestrandeten Ballonfahrer – zumindest in der Filmfassung von 1936, für die der vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren sehr erfolgreiche Isaak Dunajewski eine dramatisch-heroische Musik für Kinderchor und Orchester schrieb.

Für heutige Ohren klingt diese Musik und vor allem die Lieder, zeitgebunden und nostalgisch: so optimistisch-zuversichtliche könnte nur eine Jugend in die Zukunft marschieren, die die Schrecken von Stalinismus und Faschismus noch nicht bis zum Ende erlebt hatte. Weit ausschreitende Melodiebögen, pathetische Harmonien und ein hurtig dahinschreitender Marschrhythmus, der fabelhaft zu den optimistischen Bildern der Filmfassung passt.

Wer fünf Kammermusikfreunde hat und Lust verspürt, sich selbst auf musikalische Entdeckungsfahrt zu begeben, dem sei die kongeniale Kammermusikbearbeitung der Ouvertüre aus der Feder Vladmir Genins ans Herz gelegt. Ein bisschen „Holländer“, ein bisschen Prokofieff und ein ordentliche Prise sozialistischer Realismus – der Spaß bleibt nicht aus.

Donnerstag, 2. Juni 2011

Streichquartette von Joseph Martin Kraus

Er gilt als der „schwedische Mozart“: Joseph Martin Kraus. Mit dem berühmten Kollegen teilt er dabei nicht nur das Geburtsjahr – er hat ihn auch nur um ein halbes Jahr überlebt. Der aus dem fränkischen Miltenberg stammende Musiker begann zeittypisch in der Tradition der Mannheimer Schule und entwickelte sich bald zu einem der eminentesten Vertreter des musikalischen Sturm und Drang. 

Karriere machte Kraus jedoch nicht in seiner Heimat, sondern in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Er war Kapellmeister im Dienste des schwedischen Königs und erlebte das (wiederholt als Opernhandlung dramatisierte) Attentat auf Gustav III. bei einem Maskenball aus nächster Nähe.
Sein ausgeprägter dramaturgischer Instinkt, der sich auch in einigen Opernkompositionen zeigte, durchwirkt auch die Streichquartette, von denen hier drei in einer schönen Neuausgabe erschienen sind.

Es handelt sich dabei um durchaus experimentelle Werke mit originellen und effektvollen Einfällen, so im Allegro des D-Dur Quartetts mit seiner asymmetrischen Stimmführung oder den Echowirkungen des gleichen Werkes. Melancholisch wirkt die fahle Elegie und merkwürdig gebrochene Melodik des f-moll-Quartetts.

In Kraus‘ Musik finden sich Einflüsse Haydns, Glucks und Mozarts – eingeschmolzen in dichten, substantiellen Satz voller Schwung und Feuer, Zartheit und Eleganz. Mozartisch ist die Lust an figurativer Fragilität, die gerne mit barockem Kontrapunkt verbunden wird. Seine Steigerungen – ganz nach Mannheimer Gusto – baut Kraus mit Direktheit und Stringenz. Auffallend ist die Dominanz der Molltonarten, der dunklen Stimmungen, die pathetische Grundhaltung, die Gluck viel verdankt.

Warum Joseph Martin Kraus nach seinem Tod rasch vergessen wurde, ist nicht recht einleuchtend. An der Musik kann es nicht liegen, die ist ebenso gut wie die seiner bedeutenden Zeitgenossen Mozart und Haydn – nur eben ganz anders. Dass einige seiner Werke auch Joseph Haydn zu geschrieben wurden, spricht ebenfalls für das Urteil des „Vaters der Wiener Klassik“. Der nannte Kraus „eines der größten Genies, die ich je gekannt habe“. Dem sollte man nicht widersprechen.


Joseph Martin Kraus
Streichquartett in f-moll VB 178
CV 50.651
EUR 17,20

Streichquartett in E-Dur VB 180
CV 50.653
EUR 21,40

Streichquartett in D-Dur op. 1,4 VB 184
CV 50.658
EUR 27,40
 

Donnerstag, 31. März 2011

Gaetano Brunetti, Streichquintett B-Dur op. 7,3


1771. Kein besonders auffälliges Jahr in der Geschichte der Menschheit: In Deutschland herrscht wieder einmal eine große Hungersnot, in Schweden besteigt ein neuer König den Thron, der berühmte bayerische Räuberhauptmann Matthias Klostermayr (der „Hiasl“) wird verhaftet und hingerichtet – und in Madrid wird das Streichquintett erfunden. Sein Erfinder: der legendäre Luigi Boccherini, Kammerkomponist des spanischen Prinzen Luís Antonio de Borbón y Farnesio. Oder etwa nicht? Und wer ist dann eigentlich dieser Gaetano Brunetti, der im selben Jahr eine Folge von sechs Quintetten für zwei Violinen, zwei Bratschen und Violoncello drucken ließ?

Geboren wurde er 1744 in Italien – vermutlich in Fano – und erwarb sich rasch einen Ruf als herausragender Geigenvirtuose. 1767 begegnen wir ihm am Madrider Hof, wo er unter Karl III. bis zum Violinlehrer und Musikmeister des Prinzen von Asturien, dem späteren König Karl IV., aufstieg. Unter dessen Regentschaft gewann das Musikleben am spanischen Hof an Bedeutung und Brunetti übernahm schließlich die Leitung des 1795 gegründeten königlichen Kammerorchesters.

Wenn das idealtypische Streichquartett nach Goethes Definition eine Unterhaltung unter vernünftigen Leuten darstellt, so ist Brunettis von Tilman Sieber vorgelegtes Quintett eine erregte Diskussion im Debattierclub der Hauptstadt. Lustvoll, virtuos und nicht ohne Humor werden hier Themen und Motive zwischen den fünf Disputanten aufgeteilt, von einer neuen Seite beleuchtet oder karikiert. Weil alle Stimmen beständig ihre Funktion wechseln – nicht einmal die erste Geige spielt ihre Rolle als „primus inter pares“ aus – ergibt sich ein feinnerviger und quicklebendiger Streichersatz mit feinsten klanglichen Abstufungen. Sturm und Drang unter der spanischen Sonne, und eine Musik, die den Vergleich mit Haydns Kammermusik nicht zu scheuen braucht – und die Musik seines Kollegen Boccherini sogar in den Schatten stellt. Schade, dass Brunettis Musik so lange warten musste, bis sie endlich den Dornröschenkuss eines Verlages erhielt. Aber nun kann das Leben ja weitergehen – und wer weiß, welche Schätze noch in den Archiven schlummern. 

Gaetano Brunetti
Streichquintett B-Dur op. 7,3
Herausgegeben von Tilman Sieber
Edition Schott ED 20 427
EUR 39,95

Montag, 14. Februar 2011

Ignaz Pleyel | Trio in e-moll & Quartett in D-Dur

Ignaz Pleyel | Trio in e für 2 Violinen und Violoncello | Herausgegeben von Peter Erhart | Partitur und Stimmen | Doblinger Diletto Musicale DM 1408 | EUR 19,90

Quartetto in D für Flöte (Violine), Violine, Viola und Violoncello | Herausgegeben von Peter Erhart | Partitur | Doblinger Diletto Musicale DM 1409 | EUR 13,90


Lange hat es gedauert, bis sich der Blick der musikalischen Welt vom Zentrum der Musikgeschichte an die Peripherie verlagerte. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende Vergewisserung des musikalischen Erbes und die damit verbundene Wiederentdeckung jener Komponisten, die man etwas abschätzig als „Kleinmeister“ bezeichnete. Wer wollte neben Mozart und Haydn, Schumann und Brahms, Wagner und Bach schon bestehen? Inzwischen haben vor allem eine Großzahl hervorragender Aufnahmen sogenannter Spezialisten für „Alte Musik“ dafür gesorgt, dass wir nicht nur die Musik der Großmeister kennen, sondern auch die von Johann Baptist Vanhal, Michael Haydn und den Bachsöhnen Johann Christian und Carl Philipp Emanuel, von Fanny Hensel und Heinrich von Herzogenberg. Wir lesen beispielsweise Telemann neu und erkennen in ihm allmählich den musikalischen Revolutionär, der die große Geste ebenso sicher beherrschte wie Händel, ohne jedoch wie dieser das gleiche Stück sechzig Mal zu schreiben. Ein Kleinmeister?

Vielleicht ist es einfach an der Zeit, der merkwürdig deutschen Unterscheidung in „große“ und „kleine“ Komponisten endgültig „Lebewohl“ zu sagen. Wie fragil diese Kategorisierung zu allen Zeiten war, lässt sich daran ermessen, dass selbst Joseph Haydn lange Zeit nur als „Nebenmeister“ Mozarts galt – und jener allerhöchstens einmal in der Jupitersymphonie „beinahe beethoven’sche Höhen“ erreichte.

Ignaz Pleyel studierte bei Vanhal und Haydn, wurde 1777 Kapellmeister beim Grafen Erdödy, 1789 erster Kapellmeister am Straßburger Münster und 1792 Leiter der „Professional Concerts“ in London. 1795 übersiedelte er nach Paris, wo er eine Musikalienhandlung und 1807 die noch heute bestehende Klavierfabrik gründete. Er komponierte rund 60 Sinfonien, 60 Streichquartette, zwei Opern (eine davon – die „Fee Urgèle“ – für Marionettentheater), etliche Kammermusikwerke und natürlich Kirchenmusik –das übliche Pensum eines Komponisten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Was hat uns also Ignaz Pleyel zu sagen? Eine ganze Menge, wenn man sich den von Peter Erhart vorgelegten Kammermusikwerken widmet: Wer ein so perfekt proportioniertes Rondo wie jenes aus dem Quartett in D-Dur zu schreiben in der Lage ist und dabei so viel Liebe zum überraschenden Detail verrät, der ist ein Meister aus eigenem Recht und kein Verfertiger musikalischer Dutzendware. Jeder dieser sechs Sätze ist eine Entdeckung: man staunt über die Logik und Stringenz, mit der Pleyel seine originellen Themen und Motive zu immer wieder neuen überraschenden Gesten und Wendungen kombiniert. Diese Musik wirkt so frisch wie an ihrem ersten Tag und demonstriert eindrucksvoll, dass nicht nur Haydn und Mozart sich auf die Kunst verstanden, drei oder vier vernünftige Leute sich miteinander unterhalten zu lassen. Und wenn Ihnen diese Empfehlung noch nicht reicht, lassen wir einem zeitgenössischen Kollegen das Schlusswort. 1784 schrieb der ein Jahr ältere Wolfgang Amadé Mozart seinem Vater über Pleyels Quartette: „Dann sind dermalen Quartetten heraus von einem gewissen Pleyel; dieser ist ein Scholar von Joseph Haydn. Wenn sie selbige noch nicht kennen, so suchen Sie sie zu bekommen. Es ist der Mühe werth. Sie sind sehr gut geschrieben, und sehr angenehm.“






Samstag, 12. Februar 2011

Roland Batik, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2


Auch mit seinem zweiten Klavierkonzert wandelt der 1951 geborene Roland Batik wieder auf den Spuren von George Gershwin und Chick Corea, wenn es darum geht, U und E in der Musik mit einander zu versöhnen. Ging es Gershwin mit seiner „Rhapsody in Blue“, der „Cuban Ouverture“ und dem genialen „Concerto in F“ um den Einzug des Broadway in die Kunstmusik, so öffnete Corea mit „Spain“ dem modernen Jazz die Tore zu den großen Konzertsälen.

In Roland Batiks gerade bei Doblinger erschienenen Klavierkonzert geht es um Pop. Oder um populären Jazz, wie man will. Härter als bei Norah Jones wird es nirgends, aber das ist vielleicht auch gar nicht beabsichtigt. Je länger man sich durch die hervorragend edierte Studienpartitur spielt, hier und da ein wenig vom Orchestersatz zu erhaschen sucht (was nicht so schwer ist, weil Batik es wie sein Landsmann Arnold Schönberg liebt, seine Partituren „in C“, also untransponiert zu schreiben), desto mehr gewinnt man den Eindruck: hier hat einer dem Publikum, sich selbst und dem Orchester einen schönen Abend machen wollen und einfach mal alles in ein Konzert gepackt, was Spaß macht. Rockige Pattern, die aus der Klangwerkstatt von Joe Zawinul (noch ein Österreicher!) stammen könnten, elegische Streichermelodien und süffige Harmonien, crispe Blechbläsereinsätze und reichlich Schlagzeug. Eigentlich genau das richtige Konzert für einen lauen Sommerabend. Gibt es die Mehlgrube in Wien eigentlich noch?

Und wenn man dann noch nicht genug von Roland Batik hat, kann man sich ja noch einen Eindruck von den „New Impressions“ verschaffen. Auch hier gehen der Spaß am musikalischen Material und seiner immer wieder neuen Verarbeitung Hand in Hand mit  schierer Lust an der Virtuosität. Danke nach Wien für diese beiden tollen Stücke!



Roland Batik
Studienpartitur Stp. 749 / Solostimme DOB 01 675
EUR 23,90 / EUR 14,95
Fassung für zwei Klaviere
Doblinger Verlag Wien

Freitag, 11. Februar 2011

Leopold Kozeluch: Sämtliche Sonaten für Klavier



Die beliebtesten und erfolgreichsten Komponisten im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts hießen nicht etwa Joseph Haydn und Wolfgang Amadé Mozart sondern Ignaz Pleyl, Antonio Salieri und – Leopold Kozeluch: „ohne Wiederrede, bey jung und alt, der allgemein beliebtste, unter unsern itzt lebenden Komponisten“ verzeichnet Gerbers Lexikon der Tonkünstler 1790 und urteilt etwas umständlich, seine Werke zeichneten sich durch „Munterkeit und Grazie, die edelste Melodie mit der reinsten Harmonie und gefälligsten Ordnung in Absicht der Rhythmik und Modulation“ aus. Mit 50 Klavierkonzerten, 30 Sinfonien, 60 Klaviersonaten, mit diversen Solokonzerten sowie mit Opern, Kantaten, Balletts und Oratorien war Kozeluch als Komponist  äußerst produktiv. Doch weder in den Konzertsälen noch im Unterrichtsraum ist sein Name geläufig. Mit der ersten Urtextausgabe der Claviersonaten (soeben ist der erste Band erschienen) im Bärenreiter Verlag – betreut durch den Barock-Spezialisten Christopher Hogwood – soll sich das nun ändern.

Kozeluchs Lebensweg ist nicht untypisch für die kurze Regierungszeit Josephs II.: in nur zwanzig Jahren stieg der 1747 geborene Sohn eines Prager Schuhmachers zum kaiserlichen Kapellmeister auf und starb 1818 hochgeehrt, wohlhabend – und weitgehend vergessen. Was ihm viele Jahre Anerkennung und Aufträge einbrachte, nämlich die Fähigkeit „natürlich, anmutend und fließend“ zu komponieren mit „gut phrasiertem“ Rhythmus, „gut plazierten“ Akzenten und „reiner Harmonie“, wurde schon bald nach seinem Tod gegen ihn verwendet. Zu rein, zu gefällig und zu harmlos. Ein bloßer Vorläufer, ein Bindeglied, ein „Kleinmeister“.

 Dabei war er ein exzellenter Komponist von eigenem Rang, der Schubert und Beethoven sowohl in ihrem tragisch-pathetischen Ausdruck vorwegnahm (wie in den Einleitungen zu seinen Sonaten in Moll-Tonarten), als auch eine viel gepriesene Form des langsamen Satzes propagierte. Für diese Einschätzung zitiert Hogwood als Zeitzeugen das britische „Monthly Magazine“ von 1800: „Die Instrumentalmusik scheint jetzt perfekter zu sein als in allen früheren Perioden. Wenn die modernen Pianoforte-Sonaten auch nicht die Wildheit und Originalität von Domenico Scarlattis Cembalo-Musik haben, sind sie doch planvoller, melodiöser, und in einigen Adagios (besonders von Koželuch) ist die Melodie so kantabel und expressiv, dass es die Vollendung von dieser Art Musik zu sein scheint“.

Selbst wenn man dieses hohe Lied nach zwei Jahrhunderten eine Terz tiefer anstimmen muss – der klavierpädagogische Wert von Koželuchs Sonaten ist, gerade auch im Vergleich zu den Sonaten von Clementi, Dussek oder Kuhlau, beachtlich. Denn das Klavierwerk des böhmischen Meisters ist zwar für den Gebrauch von Laien und für musikalische Privatunterhaltungen konzipiert, ist aber „klassisch“ im besten Sinne; durchdacht konstruiert und eingänglich komponiert, „zeigen sie präzise bis zur Perfektion die Eigenschaften, die Theoretiker für eine Sonate am Ende des 18. Jahrhunderts beschrieben haben.“ (Hogwood).

Die technischen Anforderungen bewegen sich im soliden Mittelfeld – nichts, was man nicht nach zwei oder drei Jahren Unterricht bewältigen könnte. Die Bärenreiter-Ausgabe ist wie gewohnt exzellent gedruckt und mit einem umfangreichen Anmerkungs-Apparat ausgestattet. Für erfahrene Klavierspieler dürfte diese Ausgabe eine echte Entdeckung darstellen.



Leopold Kozeluch
Sämtliche Sonaten für Clavier, Band 1
Herausgegeben von Christopher Hogwood
Bärenreiter Verlag BA 9511
EUR 39,95

Mittwoch, 9. Februar 2011

Märchenhafte Bratschenmusik: Johan Severin Svendsen, Romanze G-Dur


Das Leben von Johan Severin Svendsen gleicht einer romantischen Geschichte, wie sie von Hans Christian Andersen hätte erfunden sein können. Der 1840 im norwegischen Christiana geborene Musik gehörte als junger Geiger zu den größten Hoffnungen seiner Nation und erhielt wegen seines außerordentlichen Talentes ein königliches Stipendium für das in der musikalischen Welt damals führende Leipziger Konservatorium. Der 23jährige wurde von Ferdinand David (für den sein Freund Felix Mendelssohn das berühmte Violinkonzert geschrieben hatte) im Geigenspiel und Dirigieren unterrichtet, studierte Komposition bei Carl Reinecke, Musiktheorie bei Moritz Hauptmann und Kontrapunkt bei Ernst Friedrich Richter. Doch eine Erkrankung an der Hand beendete die Solistenkarriere frühzeitig und zwang Svendsen, sich –ähnlich wie Robert Schumann – verstärkt dem Komponieren zuzuwenden. Und anders als Schumann feierte er auch als Dirigent große Erfolge.



Während die Musik von Johan Severin Svendsen in Norwegen häufig gespielt wird und auch auf Tonträgern gut dokumentiert ist, dürfte sie für den mitteleuropäischen Musikfreund eine angenehme Entdeckung darstellen. Seine beiden Symphonien, die beiden Konzerte für Violine und Violoncello, seine norwegischen Rhapsodien oder die programmatischen Orchesterstücke atmen die klare Luft Skandinaviens und finden einen ganz eigenen Tonfall, der sich kaum mit dem Altersgenossen Edvard Grieg vergleichen lässt, mit dem Svendsen befreundet war. Mit der ruhigen Geduld und großzügigen Gelassenheit, in der er etwa in den Rhapsodien musikalische Ereignisse in Gang setzt, wirkt Svendsen wie der heitere Bruder von Anton Bruckner und Jean Sibelius. Vieles weist auch auf Ralph Vaughan Williams voraus und bleibt doch unverwechselbar eigen. Hier sind noch viele Entdeckungen zu machen – und dies besonders im Bereich der Kammermusik, die noch längst nicht verlegerisch erschlossen ist.



Seinen kleinen Anteil an der Unsterblichkeit erlangte Svendsen jedoch mit der in zwei Tagen niedergeschriebenen Romanze G-Dur für Violine und Orchester, die sich von der Uraufführung bis heute anhaltender Beliebtheit erfreut. Es ist ein frisches und anmutiges Werk, dessen Solopart von ambitionierte Laien gut zu bewältigen ist. Dies gilt sowohl für die Originalfassung als auch für die hier vorliegende Bearbeitung für Bratsche und Klavier. Während die Klavierbearbeitung vom Komponisten selbst stammt und sehr idiomatisch klingt, wurde die Solostimme von den Herausgebern behutsam an die Klanglichkeit der Bratsche angepasst und mit Fingersätzen und Bogenbezeichnungen versehen. Eine echte Bereicherung des romantischen Bratschenrepertoires, das so oft düster-vergrübelt daherkommt. Hier ist ein leichtes und luftiges Sommerstück! 




Johan Severin Svendsen
Romanze G-Dur op. 26
Viola und Klavier
Herausgegeben von Semjon und Bella Kalinowsky
Edition Peters
EP 9016a

Dienstag, 8. Februar 2011

Hornquintette von Mozart, Beethoven und Nisle


Wie man den Klang von Streichinstrumenten und Hörnern auf elegante und aufregende Weise kombiniert, hat schon ein Menschenalter vor Mozart und Beethoven der Köthener Kapellmeister Bach in seinem 1. Brandenburgischen Konzert vorgemacht. Wie dort ein ohnehin schon peppiges Concerto grosso durch den Einfall einer wilden Parforcejagd mit den dazugehörigen Hörnern aufgejazzt wird, bis es die Zuhörer von den Stühlen reißt: das war bereits 1721 großes Kino! Man darf ja nicht vergessen, dass dem Horn immer noch der Ruf des Naturinstruments für Feld, Wald und Pachtwiesen anhing. Erst allmählich fand es seinen Platz in der Orchestermusik und blieb noch (mit Ausnahme des Bläserquintetts) bis ins 20. Jahrhundert ein Exot in der Kammermusik.

Wie man ein paar Generationen nach Bach mit der reizvollen Kombination Horn vs. Kammermusik umging, zeigen drei Neuerscheinungen dieser Wochen.

Dass sich Mozart gleich mehrfach auf das Abenteuer einließ, ist sicherlich seiner Freundschaft zu Ignaz Leutgeb zu verdanken. Dem außergewöhnlichen Hornvirtuosen schrieb er gleich drei Konzerte auf den Leib – und eben das außergewöhnliche Quintett KV 407. Statt mit zwei Violinen ist das begleitende Streichquartett mit zwei Bratschen besetzt, was dem dunklen, warmen Timbre des Horns entgegenkommt und dem Werk seine besondere Klangwirkung verleiht. Gelegentlich dringen Anklänge aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“ an das Ohr des Hörers, was für eine Entstehungszeit um 1782 spricht. Genaues weiß man nicht – das Autograph ist verschollen.

Mit dem Triumphzug der Wiener Klassik im Gefolge der Aufklärung wandelten sich nicht nur die sozialen Umstände, unter denen Musik gemacht wurde. Auch die Ästhetik nach 1800 war eine völlig andere. Ganze Formen und Besetzungsformen verschwanden spurlos: etwa das Divertimento, für das im bürgerlichen Zeitalter, das lieber selbst musizierte, als seine Hofkapelle auftreten zu lassen, kein Platz mehr war. Da verwundert es kaum, dass auch Beethoven nach 1800 keine Kammermusik für Bläser mehr schrieb. Er hatte dem Genre ohnehin skeptisch gegenüber gestanden… 1795 hatte er hingegen noch Zeit, Lust (und wahrscheinlich auch einen Auftraggeber) für das vor allem in den Hornstimmen erstaunlich virtuose Sextett op. 81b. Die Henle-Ausgabe bietet die Basspartie erstmals so, wie von Beethoven vorgesehen: für Violoncello und verstärkenden Kontrabass. Außerdem enthält sie zusätzlich zu den originalen Hornstimmen in Es transponierte Stimmen in F.

Mit seinem musikalischem Genie reicht der 1780 geborene Johann Friedrich Nisle sicherlich nicht an die Riesen Mozart und Beethoven heran – dafür verfügt er ihnen gegenüber einen Vorteil: Nisle war nicht nur ein tüchtiger Komponist mit genialischen Zügen, sondern muss auch ein exzellenter Hornist gewesen sein. Sein Quintett in der ungewöhnlichen Besetzung für Flöte, Violine, Viola, Horn und Violoncello fällt durch unorthodoxe Formen und eine gewisse Kleingliedrigkeit auf, die man auch als „atemlos“ bezeichnen könnte. Dem ersten Satz geht eine lange mehrteilige Einleitung voran, im Zentrum steht ein Menuett und als Abschluss dient ein „alla siciliana“. Der Hornpart bereitet einem geübten Spieler wahrscheinlich keine ernsthaften Probleme, ist jedoch auf einem Naturhorn wegen der zahlreichen Wechseln zwischen offenen, halboffenen und gestopften Tönen kaum zu spielen. Nisle muss wirklich ein exzellenter Virtuose gewesen sein! Die Häufung wechselnder Affekte und die abrupten Übergänge verleihen  dem Werk einen zerrissenen Charakter, der im Konzert sehr effektvoll werden kann. Wenn es denn zu einer Aufführung kommt: der gepfefferte Preis von 125 Euro für nicht besonders aufwändig gestaltete Partitur und Stimmen dürfte viele Musiker abschrecken.



Wolfgang Amadé Mozart
Hornquintett Es-Dur KV 407 (386c)
Herausgegeben von Henrik Wiese und Norbert Müllemann
G. Henle Verlag
Studienpartitur HN 9826 / Stimmensatz HN 826
EUR 8,- / Eur 16,-

Ludwig van Beethoven
Sextett Es-Dur op. 118b
2 Hrn, 2 Vl, Vla und Bass
Herausgegeben von Egon Voss
G. Henle Verlag
Studienpartitur HN 9955 / Stimmensatz HN 955
EUR 10,- / EUR 20,-

Johann Friedrich Nisle
Quintuor op. 26 für Flöte, Violine, Viola, Horn und Violoncello
Herausgegeben von Christian Vitalis
Edition Dohr
Partitur ISMN M-2020-1396-0 / Stimmensatz ISMN M-2020-1397-7
EUR 49,80 / EUR 75,80


Montag, 7. Februar 2011

Johann Gottlieb Graun: Konzert für Violine, Viola und Orchester c-moll




Der Musik der sogenannten „Berliner Klassik“ haftet in der deutschen Musikgeschichte immer ein wenig der Ruf des „provinziellen“, zweitklassigen Komponierens an. Während in Wien Haydn, Mozart und Beethoven den Ton vorgaben oder sich zweihundert Jahre lang zwischen Dresden, Halle und Leipzig mehr geniale Musiker tummelten als in jeder anderen Region Europas, hießen die führenden Köpfe in der preußischen Residenzstadt Carl Philipp Emanuel Bach, Christoph Schaffrath, Johann Peter Reichardt, Carl Zelter oder eben Johann Gottlieb Graun. Dass sich die Komponisten der Berliner Schule zudem als Förderer einer Laienmusikkultur verstanden, hat dazu geführt, dass sich neben einigen Juwelen eben auch unfassbar viel Gebrauchsmusik im gewaltigen Bestand der Berliner Staatsbibliothek findet, etwa im Archiv der Berliner Sing-Akademie, das vor knapp zehn Jahren seinen Weg aus der Ukraine zurück nach Deutschland gefunden hat.

Einer dieser Juwelen ist gewiss Johann Gottlieb Grauns Concerto für Violino concertante, Viola da gamba, Streicher und Basso continuo, dass in der Edition Güntersberg sowohl in der Originalbesetzung als auch in der überlieferten Fassung für die Soloinstrumente Violine und Viola vorgelegt werden.

Das dreisätzige Werk fasziniert durch seine Mischung aus spätbarocker Musizierhaltung und einer dramatischen Einbeziehung neuer klanglicher und formaler Ideen, wie sie zur Mitte des 18. Jahrhunderts im Gefolge von „Sturm und Drang“ auch in der Musik Einzug hielten: rascher Wechsel von forte und piano (regelmäßig sogar pianissimo), lange Diminuendo-Passagen, die wie in Zeitlupe zerdehnte Sforzati wirken und die das ebenso spielerisch wie todernst wirkenden Wechselspiel der beiden Solisten, die sich passagenweise ins Wort fallen treiben den ersten Satz in der Schicksalstonart c-moll über zweihundert Takte lang zu einem furiosen Zwischenhalt.

Die Spannung löst ein wunderbar singendes „Adagio con sordini“ in g-moll, das von der Bratsche (resp. Gambe) nicht selten zweistimmiges Spiel verlangt, so dass die Solisten eine regelrechte Concertisten-Gruppe bilden, welche dem Tutti als eigenes Ensemble gegenüberstehen. Nur ein Beispiel für Grauns Instrumentationskunst, die sich in allen Sätzen den besten Werken Haydns ebenbürtig zeigt. Die beiden Hornstimmen, die Sing-Akademie-Chef Carl Zelter um 1800 der Partitur hinzugefügt hat, sind also eigentlich unnötig – sie zerstören meines Erachtens sogar das von Graun überaus sorgfältig ausgehörte Gleichgewicht der Klänge. Dennoch – weil sie eben auch schon historisch sind – haben sie zu Recht ihren Einzug in die (im Übrigen mustergültige) moderne Erstausgabe gefunden.

Das Finale hat es dann noch einmal in sich: kein hurtig dahin huschendes 6/8-Rondo, wie ich es erwartet hätte, sondern eine schwergewichtige, unglaublich farbige und dramatische Polonaise, die noch einmal alle Register spätbarocker Affektkunst zieht.



Johann Gottlieb Graun
Konzert für Violine, Viola und Orchester c-moll
Herausgegeben von Lysiane Brettschneider und Günter von Zadow
Edition Güntersberg
Partitur G-070-1 / Stimmensatz G-070-2 / Klavierauszug G-070-3
EUR 29,- / EUR 49,- / EUR 24,80



Sonntag, 6. Februar 2011

Hanns Eisler, Sonatine op. 44 „Gradus ad parnassum“





„Ich komme aus zwei verschiedenen Klassen: Mein Vater war Philosoph, meine Mutter Arbeiterin, seine Familie war jüdisch, die meiner Mutter christlich.“

HANNS EISLER


Die DDR – der er eine der schönsten Nationalhymnen überhaupt geschrieben hatte – mochte er zuletzt gar nicht mehr. Was sollte einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, der mit literarischen Größen wie Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht gearbeitet hatte, ein Meisterschüler von Arnold Schönberg aber auch in einem Land anfangen, das von so fragwürdigen Gestalten wie Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck beherrscht wurde? Es waren wohl seine Freunde und Familie, die ihn in der DDR hielten. Er hatte ja seinen österreichischen Pass und hätte jederzeit ausreisen können.

„Dass man mit der Zwölftontechnik in einer einfachen, leichtverständlichen, logischen Weise musizieren kann“, wollte Hanns Eisler mit seiner 1934 im Pariser Exil komponierten Klaviersonatine beweisen. Dabei hatte sich der 36jährige bis dato gar nicht als „Neutöner“ exponiert, sondern sich vor allem einen Namen als Komponist schwungvoller Arbeiterchöre („Der rote Wedding“) und politischer Lieder, von Bühnen- und Filmmusik gemacht.

Aber es passt schon zu Eisler, der im Privatleben ein durchaus diskussionsfreudiger (wenn nicht gar pedantischer)  Zeitgenosse gewesen sein muss, dass er auch in dieser Frage mitreden wollte. Oder: Seien wir ganz ehrlich – demonstrieren wollte, wie man’s richtig macht. So viel gesundes Selbstbewusstsein besaß er schon…

Wie macht man’s denn nun? Zunächst einmal, indem man die zugrundliegende Reihe so konstruiert, dass ihre dodekaphonische Struktur überhaupt nicht mehr zu erkennen ist. Die ersten beiden Takte täuschen a-moll vor, eine Illusion, die erst im dritten Takt aufgehoben wird, der den Blick freigibt auf eine moderne Klanglandschaft. Die Musik der viersätzigen Sonatine kleidet sich in das Gewand der Frühklassik, ist oft zweistimmig, selten dreistimmig und pflegt eine klare und übersichtliche Sprache. Freilich rieselt hier auch schon der Staub aus den Kleidern, wenn man einmal tüchtig klopft.

Ansonsten ist aber alles dran: ein Kopfsatz mit zwei Themen, einer kleinen Durchführung und Reprise; ein Scherzo, das – ohne wirklich schwer zu sein – mit großer virtuoser Geste daherkommt; ein liedhaftes Larghetto und ein neckisches Rondofinale. Und das alles aus einem Guss, respektive aus einer einzigen Reihe, die bereits in den ersten fünf Takten des ersten Satzes vollständig präsentiert wird. Ja, so kann man’s machen!



Hanns Eisler
Sonatine op. 44 „Gradus ad parnassum“
Edition Peters 10393a
EUR 7,80

Samstag, 5. Februar 2011

Louis Vierne, Zwei Préludes für Klavier





Louis Vierne, am 8.Oktober 1870 fast blind in Poitiers geboren und am 2. Juni 1937 in Paris gestorben, ist denjenigen, die seinen Namen kennen, als legendärer Organist, den meisten eben aber auch nur als Organist bekannt. Sechs Jahre nach dem Ende seines Studiums bei César Franck und Charles-Marie Widor wurde er in einem Wettbewerbsverfahren am 2. Mai 1900 zum Titularorganisten der Kathedrale Notre-Dame in Paris ernannt. An der großartigen Orgel von Aristide Cavaille-Coll, die der vielseitig begabte Interpret, Improvisator und Komponist bis zu seinem Tod spielte – er starb während seines 1750. Konzertes buchstäblich auf der Orgelbank – traf sich bald die künstlerische und intellektuelle Elite Europas. 

Im Bereich der Orgelmusik gilt Vierne als großer Erneuerer, der die stilistischen Mittel der Moderne (vor allem des Impressionismus) furchtlos und genial auf sein Instrument übertrug und seinen Schülern – allen voran Olivier Messiaen und Maurice Duruflé – neue Wege wies.

Ein Bild, das auf seine Klaviermusik nur zum Teil zutrifft. Obwohl er sich – mit Ausnahme des Theaters – allen musikalischen Gattungen gewidmet hat und etliche Meisterwerke hinterlassen hat, blieb seine schöpferische Fantasie im Bezug auf das Klavier selbst in seinen harmonisch kühnsten Stücken dem Stil der Spätromantik verhaftet. Auch die beiden vom Stuttgarter Carus-Verlag vorgelegten Préludes „Suprème appel“ und „Tendresse“ zeigen vor allem Einflüsse aus dem Klavierwerk von Chopin, Tschaikowsky und Rachmaninow. Sie stammen aus einer Sammlung von zwölf Préludes op. 36, die im Jahr 1916 in zwei Bänden veröffentlicht wurden. Ulrich Stierle hat sich entschieden, nur zwei der Préludes („nach meiner Einschätzung die beiden besten Stücke“) zu veröffentlichen. Angesichts der Tatsache, dass die Klaviermusik des Komponisten andernorts bereits als Urtext-Gesamtausgabe vorliegt, eine weise verlegerische Entscheidung.

„Suprème appel“, das zweite Stück der ursprünglichen Sammlung, erinnert in seinem Gestus an hochromantische Kompositionen Chopins oder Rachmaninoffs. Es ist „Allegro, molto agitato“ zu spielen und beeindruckt durch seinen ungestümen orchestralen Vorwärtsdrang, der sich unter anderem in weit ausholenden Akkordbrechungen der rechten Hand zeigt. Von der Linken wird neben einer hohen Beweglichkeit auch die Fähigkeit zum gesanglichen Spiel gefordert und insgesamt erfordert das Stück ein Denken in „Klangfarben“, die den Organisten Vierne erahnen lassen.

Den perfekten Gegensatz dazu bietet „Tendresse“: eine von impressionistischen Harmonien durchtränkte Barcarole, die alle Register des Klaviers ausnutzt, um einen dichten und anmutigen Satz zu erzielen. Man denke sich dieses Stück wohl am besten auf einem historischen französischen Flügel, etwa von Pleyel oder Erard, damit die oft geforderten Töne in der Kontra-Oktave den filigranen Satz nicht erschlagen und die spieluhrmäßigen Figuren am entgegengesetzten Ende der Tastatur perlmuttfarben schimmern können.


Louis Vierne
Zwei Préludes für Klavier
Herausgegeben von Ulrich Stierle
Carus-Verlag Stuttgart CV 18.527

Freitag, 4. Februar 2011

Mel Bonis: Werke für Klavier zu vier Händen




„In der Musik von Mel Bonis ist eine Form von Eleganz [...], die so tut, als schließe sie die Augen vor ihrer eigenen Tiefe, um sie desto deutlicher hervortreten zu lassen... Hinter der melodischen Leichtigkeit, hinter dieser Musik, bei der man sich mühelos vorstellen kann, dass sie von jungen Mädchen gespielt wird, die eben aus einem Roman von Paul de Kock oder Ponson du Terrail kommen, enzdecken wir eine ganze Palette von gefühlen..., die aus diesen Stücken mehr als nur Salonromanzen machen.“

Lionel Pons


Man muss es vielleicht immer wieder sagen: Mélanie Domange (1858-1937), die als Komponistin unter ihrem Mädchennamen Mel Bonis schrieb und veröffentlichte, gehört zu den großen Musikerpersönlichkeiten im Frankreich der Belle Epoque. Dass sie es im Gedächtnis der Nachwelt nicht ist, hat zwei Gründe: Erstens den radikalen stilistischen Wandel, der in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auch die französische Musik erfasste und auch ihre Werke hinwegfegte.  Und zweitens die Tatsache, dass ihr als Frau nicht dieselbe gesellschaftliche Akzeptanz zuteil geworden ist wir ihren männlichen Studienkollegen – unter ihnen Gabriel Pierné und Claude Debussy. Eine Diskriminierung, deren Wirkung bis heute anhält und die einer hervorragenden Komponistin auch siebzig Jahre nach ihrem Tod die Anerkennung verweigert, die ihr gebührt.

 Mel Benis hat außer einigen Orchesterwerken vor allem Kammermusik und Klaviermusik hinterlassen, die (im Sinne ihres Förderers Cesár Franck) sich in der Form traditionell gibt, gleichzeitig aber impressionistische Stilelemente, Folklorismen und Exotismen selbstverständlich in den Schaffensprozess einbezieht..Somit schließt sie die Lücke zwischen der Generation eines Gabriel Fauré oder Cesár Franck und den Neutönern um Ravel und die „group des six“ und könnte somit zu den wichtigsten Protagonisten der französischen Postromantik gehören. Wenn man ihre Musik doch endlich wieder aufführen wollte!

Vielleicht gelingt es ja über den Umweg der häuslichen Kammermusik – im vorliegenden Fall mit dem sechsten Band der Gesamtausgabe von Mel Bonis‘ Klavierwerk, der dem Schaffen für Klavier zu vier Händen. Den Anfang macht eine Pavane, die würdig wäre, der berühmten fis-moll-Pavane von  Gabriel Fauré an die Seite gesetzt zu werden. Walter Labhart hat der Musik von Mel Bonis eine „Mischung von Formvollendung und zarter Expressivität, von instrumentaler Brillanz und fein abgestufter Klangkultur“. Hier finden wir alle diese Eigenschaften in Vollendung.

Schon zu Lebzeiten der Komponistin erfolgreich waren die „Six Valses-Caprice op. 87“. Es scheint, als habe Mel Bonis mit spielerischer Leichtigkeit einmal ausprobieren wollen, was aus der traditionellen Form noch zu holen wäre. Und das ist einiges.

Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Stück, das durch seine Komplexität, moderne Machart und technischen Anforderungen hervorsticht: „Le Songe de Cléopâtre“, eines von drei Orchesterwerken, das von Mel Bonis nicht herausgegeben wurde. Erschien ihr der moderne Stil des Werkes – das wohl erst nach dem 1. Weltkrieg entstanden ist – als zu gewagt in Hinblick auf eine Veröffentlichung? Man muss bedenken, um wieviel schwerer sie es als Frau hatte, ihre Musik aufführen zu lassen. Und wenn es sich dann noch um Musik handelt, die der ihrer männlichen Kollegen gar nicht so unähnlich ist (manches erinnert an Ravels „Sherezade“) und so gar nicht dem Erwartungshaltung „weiblicher Musik“ entspricht – dann belässt man ein Meisterwerk schon einmal  in der Schublade. Die hier vorgelegte Fassung für Klavier zu vier Händen ist zeitgleich mit der Orchesterfassung entstanden und erfordert von den Interpreten  neben soliden technischen Fertigkeiten auch die Fähigkeit, „in Farben zu musizieren“. Dann jedoch erschließt sich ein kleines Wunderwerk an ägyptophilenMelodien, Farben und Harmonien. Was sich auf dem Klavier schon so vortrefflich ausnimmt, muss im Orchester noch viel besser wirken. Da möchte man doch gleich eine Bittschrift an den GMD seines nächstgelegenen Orchesters verfassen.


Mel Bonis
Klaviermusik, Band 6: Werke zu vier Händen
Herausgegeben von Eberhard Mayer
EUR 25,-

Donnerstag, 3. Februar 2011

Johann Baptist Vanhal, Notturno in G



In der Stube hat jemand in der Nacht heimlich Notenständer aufgebaut und bequeme Stühle dazugestellt. Durch die dunkle Nacht stapfen vermummte Gestalten mit Fackeln und Laternen und mit großen Kästen und kleinen Bündeln, in denen Musikinstrumente vor dem Frost geschützt werden: ein kostbares Violoncello, zwei Flöten, zwei Bratschen. Geigen und Klarinetten, eine Oboe, ein Fagott, ein Horn. Ein ganzes Orchester, das in die von warmen Kerzenschein illuminierte Stube tritt, wo der Hausherr Punsch und Gebäck für die Musiker hat bereitstellen lassen.  Leise und sorgfältig werden Saiten gezupft und Wirbel gedreht, Blasinstrumente zusammengesteckt und wieder auseinandergenommen. Dann ist alles bereit. Und mitten in der Nacht erklingt Musik…

Johann Baptist Vanhal hat die oben beschriebene Szene selbst erlebt: als leibeigener Organist und Chorleiter in einem kleinen böhmischen Dorf, als Kapellmeister eines sächsischen Barons, als angesehener Musiklehrer und Komponist wird er oft in der Nacht aufgespielt haben. Seine Zeitgenossen liebten das „Notturno“, das nächtliche Musizieren zu Ehren einer angesehenen Person oder eines guten Freundes. Die von Andreas Kohn in der Schweriner Landesbibliothek entdeckte Partitur ist mit zwei Flöten und drei dunkel timbrierten Streichinstrumenten reizvoll besetzt und bietet mit seinen drei Sätzen eher Besinnliches. Selbst der einleitende Marsch – charakteristisch für dieses Genre – wirkt verhalten und wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten. Dem bäuerisch trottenden Menuett folgt ein bukolisches Andante, das mit einem besinnlichen Pianissimo endet. Die Bratschen sind aus ihrer Dienerrolle befreit und konzertieren fröhlich mit den beiden Flöten, lediglich der Cellopart erinnert an einen brav dahinschlurfenden, in langem Dienst ergrauten Hausdiener, der nur alle paar Minuten nachsehen geht, ob die Tonika noch da ist. Sie ist.

Johann Baptist Vanhal
Notturno in G für 2 Flöten, 2 Bratschen und Violoncello
Erstausgabe, herausgegeben von Andreas Kohn
Carus Verlag CV 16.064
EUR 6,80

Dienstag, 1. Februar 2011

Franz Lehár als Klavierkomponist


Da saß also ein ziemlich dicker, gemütlicher Mann an einem Klavier, und die Wochenschau sprach mit seiner Stimme: „Ich freie mich, daß meine Melodien in der ganzen Welt gespielt werden, und ich heere, daß man mich nun auch mal sehen mechte… und daher…“ Und daher spielte er uns zunächst auf einem sehr mäßigen Klimperkasten je ein paar Takte aus seinen alten Operetten, von denen ja die „Lustige Witwe“ wirklich hübsche Musik enthält. Und dann spielte er dieses, und dann spielte er jenes, und warum soll er nicht, das wäre  ja alles gut und schön.

Kurt Tucholsky, Lehár am Klavier


„Puccini ist der Verdi des kleinen Mannes, und Lehár ist dem kleinen Mann sein Puccini“. So böse urteilte im August 1931 Peter Panter alias Kurt Tucholsky in der Weltbühne, nachdem er einen Bericht über den Komponisten in London in einer Kino-Wochenschau gesehen hatte. Die Melodienseligkeit einer Epoche, in der sich die Katastrophe längst abzeichnet („Allmächtiger Vater im Himmel, der du die Käsemaden erschaffen hast und den Hitler“ heißt es im gleichen Artikel), ist dem Verfasser mehr als suspekt.

Dabei hat der kleine Mann aus dem ungarischen Komaróm eigentlich sein Lebtag nichts anderes werden wollen als ein „ernsthafter“ Komponist. Man höre nur einmal in sein symphonisches Frühwerk hinein – etwa die „Symphonische Vision: Meine Jugendzeit, die ohne Bedenken Smetanas „Ma Vlast“-Zyklus zur Seite gestellt werden kann oder die Fantasie „Fieber“ aus dem Jahr 1915 für Tenor und großes Orchester, in der im Stile eines Melodrams die Fieberphantasien eines sterbenden Soldaten dramatisch in Töne gefasst sind. Hierpräsentiert sich hier eine halluzinatorisch-gespenstische Collage aus Bildern und Klängen von Schlachtfeldern, Paraden und walzerseligen Erinnerungen auf beinahe filmische Weise.

Sein Oeuvre für Klavier ist überschaubar: zwei Sonaten und eine Fantasie, die nun im – von Lehár selbst gegründeten – Glocken-Verlag erschienen sind und im deutschsprachigen Raum von der Edition Weinberger ausgeliefert werden. Die Handschrift Lehárs ist auch hier unverkennbar: eingängige Themen, raffiniert harmonisiert und ein gutes Gespür für die musikalische Form, das auch eine halbstündige Klaviersonate zusammenzuhalten vermag. Dies ist insofern bemerkenswert, als der Komponist zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gerade einmal achtzehn Jahre alt war und sich auf dem Gymnasium in Sternberg auf seine Matura vorbereitete.

Der Klaviersatz ist durchgehend elegant und durchsichtig und erinnert oft an den Klavierauszug ungeschriebener Orchesterwerke– von jugendlichem Imponiergehabe findet sich keine Spur. Dafür aber eine ganze Reihe von Stilmitteln, die Lehár sein ganzes Leben hindurch beibehalten sollte. Da sind zum Beispiel die Bordunquinten im dritten Satz der F-Dur-Sonate, über der sich die Csárdás-Version einer Bach’schen Invention entfaltet: hier fühlt man sich unwillkürlich in das erste Bild des „Grafen von Luxemburg“ versetzt. Ebenso wie die grübelnde Eröffnungen der d-moll-Sonate und der Fantasie Modell gestanden haben könnten für einige der beklemmenden Stellen im „Zarewitsch“.

Als Dvořák 1887 zwei Kompositionen Lehárs gesehen hatte (es dürfte sich wahrscheinlich um seine Klaviersonaten gehandelt haben), soll er den jungen Musiker ermuntert haben: „Hängen Sie die Geige an den Nagel und komponieren Sie lieber.“ Ein weiser Ratschlag.

Klaviermusik von Franz Lehár
Fantasie für Klavier
Glocken Verlag
ISMN M-57006-114-3
EUR 12,50

Sonate in d-moll für Klavier
Glocken Verlag
ISMN 979-0-57006-113-6
EUR 14,90

Sonate in F-Dur für Klavier
Glocken Verlag
ISMN 57006-112-9