Auch ein Jahrhundert nach dem Tod ihres Urhebers birgt
die Musik Josef Rheinbergers ausreichend Konfliktstoff in sich, um unter
Musikern und Musikliebhabern für Gesprächsstoff und zuweilen kontroverse
Diskussionen zu sorgen. Vielleicht ist es ihre auf den ersten Blick so
offensichtlich erscheinende Harmlosigkeit: die fein-säuberlich in Perioden von
vier und acht Takten geschachtelten Einfälle, die an Mendelssohn geschulte
Harmonik und die klar gegliederten Melodien – es scheint, als hätten die von
Liszt und seinen neudeutschen Jüngern komponierten musikalischen Dichtungen und
die von dem genialen Monomanen Richard Wagner ersonnenen Musikdramen auf
Rheinberger überhaupt keine Wirkung erzielt. Dessen Musik ist nicht einmal
konterrevolutionär – der Liechtensteiner Professor nimmt von den musikalischen
Entwicklungen um ihn herum schlicht und ergreifend keine Kenntnis. Dass er sich
auch noch hartnäckig weigerte, seinem zutiefst bürgerlichen Lebenslauf
wenigstens einen Hauch von Künstlertum zu verleihen, dürfte ihn in den Augen
seiner Gegner endgültig erledigt haben.
1839 geboren, gehört Rheinberger zur mittleren Generation
seines Jahrhunderts: jünger als Brahms, älter als Bruckner. Das sichert ihm
einen Platz zwischen den Stühlen – zumal er die Kühnheiten der
Vorgängergeneration nicht fortsetzt. Vielleicht ist aber alles gar nicht so
einfach, wie es aus dem historischen Abstand scheinen mag: Vielleicht hat sich
Rheinberger doch mit der Musik seiner unmittelbaren Zeit auseinandergesetzt?
Möglicherweise kam er bei seinen Überlegungen, wie Neue Musik im ausgehenden
19. Jahrhundert auszusehen habe, einfach zu einem anderen Ergebnis.
Komponisten im letzten Drittels des 19. Jahrhunderts
befanden sich in einer Situation, die der ihrer Kollegen im folgenden
Jahrhundert gar nicht einmal so unähnlich war. Wer um 1880 neue Musik schreiben
wollte, der sah sich mit einer Fülle von Möglichkeiten konfrontiert: er konnte
den von Wagner und Liszt beschrittenen Weg weitergehen und die Grenzen der
Tonalität erforschen (Schönberg, Zemlinsky). Er konnte in seiner Musik Sphären
verbinden, die bislang als unvereinbar gegolten hatten: so wie Gustav Mahler,
der in seiner ersten Symphonie eine Klezmer-Kapelle auftreten ließ – oder
Johann Strauß, der seinen Walzern wahre symphonische Dichtungen „en miniature“
als Einleitung angedeihen ließ und im „Kaiserwalzer“ bis in Tristanregionen
vorstieß. Oder erschuf sich selbst als Gesamtkunstwerk – wie der „Gottesnarr“
Anton Bruckner, der seine ersten Werke noch geistlichen Herren widmete, die
siebte Symphonie Richard Wagner, die achte dem Kaiser und die neunte dem lieben
Gott. Auch das 20. Jahrhundert kennt seine Gottesnarren und Experimentatoren,
seine Synthetisten und durchgeknallten Monomanen – wer dabei an Arvo Pärt,
Pierre Boulez, Bernd Alois Zimmermann und Karl-Heinz Stockhausen denkt, liegt
sicherlich nicht daneben.
In einer solchen Gruppe nimmt Rheinberger einen Platz
ein, wie ihn heute vielleicht Wolfgang Rihm oder Moritz Eggert besetzen. Ein
Komponist, dem das in Experimenten gewonnene Material genügt und der daraus
Neue Musik formt, deren Modernität sich nicht in der Wahl des Ausgangsmaterials
, sondern in anderen Parametern ablesen lässt. Und die ausreichend in der
Praxis verwurzelt sind, um zu wissen, „was geht“ – und ihre Musik immer auf
eine mögliche Aufführung hin konzipieren.
Was dies für Rheinberger bedeutet, lässt sich an seinem
1874 komponierten Streichquartett a-moll und den Variationen für
Streichquintett nachvollziehen. In den
beiden Werken verbinden sich Klangdichte und Variationskunst, die in der
Nachfolge Schumanns und Mendelssohns gesehen werden können, mit Rheinbergers
Sinn für klar abgesteckte Satzbildung und gediegene kontrapunktische Arbeit.
Rheinbergers Gespür für die innere Dramatik eines Werkes, für den ökonomischen
Umgang mit dem Material und nicht zuletzt für kompositorisches Timing ist dabei
beeindruckend: Kaum ein Takt, der nicht an seiner richtigen Stelle wäre. Dabei
tritt zugleich eine emotionale Distanz zutage, die sicher nicht nur einer
mangelnden emotionalen Tiefe des Menschen Rheinbergers geschuldet ist, sondern
sicherlich auch (bewusste) Reaktion auf das narkotische Gift der wagner’schen
Musikdramen darstellt. Was hätte auch noch kommen sollen, nachdem die „Walküre“
(aus der Rheinberger kurioserweise im Finale des Quartetts einige Takte
zitiert) bereits das Motiv einer inzestuösen Liebesbeziehung auf die Bühne
gebracht hatte und in einer wilden Orchesterorgie gefeiert hatte? Gerade in
seiner Verweigerungshaltung und der Rückbesinnung auf ein „l’art pour l’art“
erweist sich Rheinberger als ein aufrechter Erneuerer, der mit seiner
„objektiven Musik“ sogar noch Einfluss auf Hindemith ausübte.
Josef Gabriel Rheinberger
Streichquintett in a-moll op. 82
Herausgegeben von Werner Aderhold
Carus Verlag
Partitur und Stimmen CV 50 082
EUR 29,90
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